Die meisten Gewalterfahrungen machen Jungen in der Familie - und in ihrer Gruppe, die quasi eine eigene Ethnie bilden und sich von anderen abgrenzen will. Ein Mechanismus, der sich aufbrechen lässt.

Prof. Dr. Ahmet Toprak ist einer der wenigen Erziehungswissenschaftler, die sich mit den besonderen Ursachen und Mustern von Aggression bei türkischen Jugendlichen befasst haben. Im Rahmen der bayerischen Jugendhilfe er auch Anti-Aggressions-Kurse mit jugendlichen Gewalttätern in München.

ABENDBLATT: Welche besonderen Aggressionsauslöser sehen Sie bei türkischen Jugendlichen?

TOPRAK: Mehrere wirken zusammen. Frust über die schlechte Schulbildung, die kaum Chancen eröffnet. Die Eltern sind nicht in der Lage zu fördern. In vielen Familien spielt Gewalt eine Rolle, ein eigenes Zimmer und eine Intimsphäre für sich haben viele Jungen nicht. Es gibt oft aufenthaltsrechtliche Probleme. Durch all diese Faktoren baut sich ein Frust auf, der schon bei kleinen Anlässen zur Überreaktion führen kann.

ABENDBLATT: Warum schließen sich viele der Jungen in autoritär agierenden Gruppen zusammen?

TOPRAK: Da findet eine Selbst-Ethnisierung statt, die im Milieu jugendlicher Gewalttäter sehr häufig ist. Die Jungen fühlen sich nicht als Türken, weil sie die Türkei kaum kennen, und nicht als Deutsche. Nur die Gruppe bietet eine gemeinsame Basis: gleiche Schule, gleicher Stadtteil, gemeinsame Erfahrungen etwa bei der Ausländerbehörde. Dazu gehört auch eine eigene Sprache: das Deutsch-Türkisch, eine Abgrenzung gegen deutsche und andere Jugendliche, aber auch gegen die eigenen Eltern. Übrig bleibt eine kleine, fest zusammen geschweißte Gruppe, fast wie eine Ersatzfamilie.

ABENDBLATT: Und diese Gruppe muss sich nach außen auch in Kampferfahrungen beweisen?

TOPRAK: Ja, wenn man gemeinsam etwas unternimmt und ein Mitglied der Gruppe sich von außen angegriffen fühlt, dann fühlt sich das Ganze angegriffen - das gehört zum Ehrgefühl. Aber trotz dieser unverhältnismäßigen Solidarität ist so eine Gruppe nicht konfliktfrei. Wer neu ist, wird provoziert und knallhart getestet. Die meisten Gewalterfahrungen machen diese Jungen in der Familie - und in ihrer Gruppe.

ABENDBLATT: Was tun Sie als Anti-Aggressions-Trainer, um sich Respekt zu verschaffen?

TOPRAK: Respekt und Achtung sind sehr wichtige Begriffe für diese Jungen. Sie möchten als Menschen respektiert und geachtet werden. Sie argumentieren oft so: Ich bin benachteiligt, und selbst wenn ich gut wäre, käme ich nicht dahin, wo ich hin möchte. Wenn ihnen ein qualifizierter türkischer Jugendsozialarbeiter gegenübertritt, ist das erst mal ein Beispiel dafür, dass es bei einigen doch klappt.

ABENDBLATT: Deutsche Lehrer finden oft keinen Respekt.

TOPRAK: Ich mache seit Langem Lehrerfortbildungen, und da stelle ich fest: Den meisten Lehrern fällt es schwer, irgendetwas an türkischen Jugendlichen zu respektieren und an sie zu glauben. Zwar bemühen sie sich, sie sagen: Du bist zwar auf der Hauptschule, aber du wirst schon einen Job bekommen. Aber sie glauben es nicht. Ich habe das ja selbst als Hauptschüler erlebt, man hat mir dieselbe Skepsis vermittelt. Vor drei Jahren gab ich ein Interview im WDR, danach hat mir meine ehemalige Hauptschullehrerin eine E-Mail geschrieben: "Ich hatte mal einen Schüler, der hieß auch Ahmet Toprak, aber das können nicht Sie sein, denn der war so schlecht, dass er kein Doktor sein kann."

ABENDBLATT: Und mangelnde Anerkennung bestätigt die Jugendlichen wieder in ihrer Opferrolle?

TOPRAK: Nicht nur türkische, alle Jugendlichen haben ein riesiges Bedürfnis nach Anerkennung und Lob, sie wollen ernst genommen werden. Die türkischen Mädchen schaffen es besser, ihre Probleme zu meistern und in Bildung umzulenken. Viele der Jungen werden dagegen früh auf ihre Defizite und ihr provozierendes Verhalten festgelegt. In Deutschland arbeitet man sehr defizitorientiert. Bei Elternsprechtagen an der Schule werden sieben Dinge angesprochen, bei denen es Probleme gibt. Die neun Dinge, die in Ordnung sind oder sehr gut laufen, werden nicht erwähnt. Gerade Migranteneltern denken dann: Ich hab ein Monster.

ABENDBLATT: Welche Denkmuster versuchen Sie, im Anti-Aggressions-Kursus geradezurücken?

TOPRAK: Zum Beispiel "Gewalt bringt Vorteile". Gewalt bedeutet zunächst: Macht ausüben. Kurzfristig ist das ein Erfolgserlebnis, langfristig gibt es nur Nachteile: strafrechtliche, zivilrechtliche und vielleicht auch ausländerrechtliche. Daran denkt der Täter aber ebenso wenig wie an das Leid des Opfers. Damit muss man ihn konfrontieren. Außerdem zeigen wir den Jugendlichen, dass es noch andere Optionen außer Gewalt gibt. Mit den Einzelnen oder in Rollenspielen kann man auf den Fall bezogen aufarbeiten, was in der Gruppe passiert, welche Rolle Gewalt spielt. Es ist aber sehr wichtig, nicht nur mit dem Jugendlichen zu arbeiten. Auch sein Umfeld muss einbezogen, die Familie muss stabilisiert werden. Im Stadtteil, am Wohnort müssen wir Kontakt zu Sozialarbeitern, Pädagogen und Sozialdienst aufnehmen, die gemeinsam den Fall weiterbearbeiten.

ABENDBLATT: In der Diskussion sind zur Zeit Bootcamps für junge Straftäter.

TOPRAK: Im Moment rufen alle danach, weil es so schön amerikanisch nach Drill und Durchgreifen klingt. Unter Umständen können Jungen in solchen Camps ihre Aggressivität besser unter Kontrolle bringen. Aber sie helfen nicht viel, wenn nicht auch das Umfeld einbezogen wird, in das der Junge zurückkehrt. Dasselbe gilt für Gefängnisstrafen. Dabei gibt es durchaus Fälle - ich habe einige erlebt -, in denen ein "Paket" sinnvoll wäre: ein soziales oder Anti-Aggressions-Training verbunden mit einer Arreststrafe und Arbeitsauflagen als Warnschuss. Das Jugendstrafrecht ermöglicht ja bereits solche Pakete von pädagogischen und restriktiven Maßnahmen. Ein Jugendrichter kann Jugendliche ab 14 Jahren in Arrest schicken - zwei Tage Kurzzeitarrest am Wochenende bis zu vier Wochen Dauerarrest; er kann verlangen, dass sich der Jugendliche im Arrest schriftlich mit seiner Schuld auseinandersetzt und dem Opfer eine Entschuldigung schreibt. Die Gerichte tun das selten, sie müssen es nur ausschöpfen.