Hamburg. Vor Jahren gab es in Hamburg ein Police-Konzert. Die Gruppe um Sting stand damals im Zenit des Ruhms, und so waren die U-Bahnen, die zum Konzert führten, vorher gerammelt voll. Ich hatte das Unglück, in einem Waggon zu landen, in dem sich eine Schlägerei entwickelte. Das heißt, eigentlich war es keine Schlägerei, sondern vier, fünf gleich kostümierte junge Männer knöpften sich einen Einzelnen vor, den sie nach allen Regeln brutalster Gewalt zusammenschlugen. Vor unser aller Augen. Ich sage deshalb Unglück, dass ich das miterlebte, weil ich wie alle anderen tatenlos zusah.

Gewiss, es dauerte nur Minuten, dann hielt die Bahn, der Geschlagene flüchtete. Aber dennoch reichte es, mir das Konzert Stunden im Voraus zu vergällen. Und ich erinnere mich auch nur unter inneren Widerständen an den Vorfall. Es fällt mir immer dann ein, wenn ich lese, wie Neonazis eine Theatergruppe, wie junge Ausländer einen Rentner krankenhausreif prügelten. Und wie immer alle wegschauen und nichts gesehen haben wollen. Wie damals, als während der Buchmesse 1968 ein beschwipster Haufen sogenannter Buchmenschen, also Intellektueller, von einer Party (sagen wir: beim S. Fischer Verlag) lärmend und aufgekratzt zu einem anderen Empfang (sagen wir: bei Rowohlt) zogen. Natürlich sprach man damals frohgemut über die Revolution und wie sich alles ändern würde, auch das Verhältnis zum Proletariat. Ein Autor stellte übermütig sein leeres Glas auf die Kühlerhaube eines Taxis. Der Fahrer stieg aus, nahm den Glasabsteller und donnerte dessen Kopf drei- bis viermal gegen die Kühlerhaube. Auch hier half keiner von uns.

Kürzlich las ich in einer Stalin-Biografie, wie Stalins Diadochen (also Molotow, Chruschtschow, Berija) Ende der 40er-Jahre so eingeschüchtert waren, dass sie, machte Stalin einen Aussprachefehler, diesen ängstlich wiederholten, sobald sie das Wort ergreifen mussten. Molotow berichtete das. Sagte Stalin: Scharakter, dann sagten forthin alle Scharakter. Es waren die Gleichen, die Jahre später über Ungarn und die Tschechoslowakei herfielen. Dabei werden die Opfer gern noch verhöhnt: selber schuld!

Der Münchner Rentner ist, zumindest in den Augen des Zeit-Feuilletons, ein rechthaberischer Spießer, der Autor in Frankfurt hat zu viel getrunken. Die Ungarn und Tschechen: Verräter.