Die Friedhofszene in Shakespeares “Hamlet“ gilt als eine der berühmtesten der Literaturgeschichte. Doch die Faszination - und der Missbrauch - von Totenschädeln ist so alt wie die Menschheit selbst.

Hamburg. Am letzten Tag der Schlacht erschlägt der griechische Sagenheld Tydeus, einer der Sieben gegen Theben, seinen Gegner Melanippos, wird dabei jedoch schwer am Bauch verletzt. Sterbend verlangt er, man solle ihm den Kopf des Toten zuwerfen. Als er ihn in den Händen hält, schlägt er in wilder Raserei die Zähne in die grausige Trophäe, während er verblutet.

Die ungeheure nervliche Anspannung des Krieges, des Tötens und Getötetwerdens, des Mordens und Blutvergießens treibt immer wieder Männer zu verabscheuungswürdigen Taten. Immer wieder auch dienen ihnen dabei sterbliche Überreste von Menschen zur Ableitung ihrer Angst und Wut. Der Mensch, von Gott zum Frieden geschaffen, aber von der Schöpfung zum Töten befähigt, vollführt dabei, was kein Tier täte. Im Spott mit dem menschlichen Schädel, ob wie bei den deutschen Soldaten in Afghanistan aus der Gedankenlosigkeit des Übermuts geboren, ob bei Hitlers KZ-Schergen aus hohnvoller Grausamkeit gespeist, feiert das Leben seinen schimpflichsten Triumph über den Tod.

Die Barbarei der Leichenschändung stammt aus der Tötungs- und Vernichtungslust der ersten Hominiden, doch der dunkle Trieb klebt auch am Kulturmenschen unserer Tage: Wie das Menschenopfer und der Kannibalismus hat die Gewalt gegenüber Toten einen schwarzen Tempel in der Seele. Die Pforte zu diesen Perversionen öffnen Hass, Furcht und die psychische Ausnahmesituation des Krieges.

Steinzeitkämpfer stellen Schädel auf Lanzen als Ruhmeszeichen vor ihre Höhlen. Animistischer Aberglaube lässt sie annehmen, dass Kräfte der Besiegten auf die Sieger übergehen. Herodot berichtet schon im 5. Jahrhundert v. Chr. vom Brauch skythischer Reiterkrieger aus der heutigen Ukraine, Skalps an ihre Sättel zu hängen und aus Kopfhaut Mäntel zu nähen. Auch die Indianer Nordamerikas und später ihre weißen Gegner skalpieren ihre Feinde.

Mittelalterliche Herrscher und französische Revolutionäre nutzen die Abschreckungskraft des abgeschlagenen Hauptes, das ihre Henker dem schaudernden Publikum zeigen. In der Bloßstellung des Besiegten schwingt immer der Triumph des Siegers mit, der seine Überlegenheit beweist und so auch die Überlegenheit seiner Person, Politik, Religion oder Ideologie. Die bleichen Schädel der Toten sind die brutalste Warnung an die Lebenden: Nach der Eroberung des persischen Isfahan lässt der Mongolenherrscher Timur Lenk im Jahr 1387 die Schädel der Erschlagenen zu 28 Pyramiden türmen.

1559 baut der maurische Korsar Dragut bei Houmt Souk auf der tunesischen Insel Djerba ein Mahnmal seiner Macht aus den Köpfen von 5000 christlichen Gefangenen. Auch in den Eroberungskriegen der Zaren gegen die islamischen Fürstentümer Mittelasiens schichten Soldaten die Schädel gefallener Feinde zu grausigen Siegeszeichen auf. In den Weltkriegen nehmen Soldaten mit den Ohren, Fingern und anderen Körperteilen auch Schädel Gefallener als Talismane und Souvenirs an sich. Im Krieg gegen den Terror unserer Tage tobt sich der Hass islamistischer Mordbrigaden an toten Amerikanern aus; die Leichen werden enthauptet und zerstückelt, so 1993 in Somalia und 2004 im irakischen Falludscha.

Eine jüngere Form der Abschreckung ersetzt den Tod durch sein Symbol. Der Schädel erscheint als Drohzeichen auf den schwarzen Flaggen der Piraten wie den schwarzen Uniformen der SS. Schon früh indes finden der Stolz des Sieges, die Freude nach gewonnener Schlacht, aber auch die Erleichterung des geretteten Lebens eine abartige Befriedigung im Scherz mit dem Entsetzen. Germanen- und Wikingerhäuptlinge machen den Totenkopf zum Requisit siegestrunkener Saufgelage. Der Langobardenkönig Alboin lässt den Schädel des Gepidenkönigs Kunimund im Jahr 566 n.Chr. zu einem Trinkgefäß umarbeiten. Als er Kunimunds Tochter Rosamunde heiratet und, so die Fama, in der Hochzeitsnacht zwingen will, mit ihm aus der schrecklichen Trophäe zu trinken, führt sie seinen Mörder an sein Bett.

Hitlers KZ-Schergen basteln aus den Schädeln ihrer Opfer Lampen und Briefbeschwerer. Der Nazi-Anatomieprofessor August Hirt sammelt seine berüchtigte Schädelkollektion bereits bei den Lebenden: Er wählt in Auschwitz 115 Häftlinge aus, lässt sie in der Gaskammer morden und präpariert die Skelette.

Die Kunst macht den Totenkopf in Dialog und Darstellung zum Sinnbild irdischer Vergänglichkeit. "Wo sind nun deine Schwänke? Deine Sprünge? Deine Lieder, deine Blitze von Lustigkeit, wobei die ganze Tafel in Lustigkeit ausbrach?", fragt Hamlet im "Hamlet" den Schädel des toten Spaßmachers Yorick, "ist denn jetzt keiner da, der sich über dein eigenes Grinsen aufhielte? Alles weggeschrumpft?"

Das Christentum zeigt den Totenschädel als Sinnbild für die Vergeblichkeit irdischen Strebens, Satanskulte suchen mit dem Symbol Kontakt zu den Mächten der Hölle, die Philosophie ehrt die entleerte Hülle des Geistes als Andenken unvergänglicher Würde. Im Herbst 1828 entleiht sich Goethe Schillers Schädel aus der Anna-Amalia-Bibliothek, um den Zusammenhang zwischen Genie und Materie zu studieren. Der Dichter weiht nur seinen Freund Wilhelm von Humboldt ein, der ihn aber später verpetzt. Aus der Betrachtung entsteht ein berühmtes Gedicht: "Und niemand kann die dürre Schale lieben, welch edlen Kern sie auch bewahre" heißt es zunächst, dann aber: "Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, als dass sich Gott-Natur ihm offenbare?"

Von solchen Reflexionen sind die Gebirgsjäger so weit entfernt wie von jedem Gedanken an die möglichen Konsequenzen ihrer Entgleisungen für die nun womöglich noch mehr gefährdeten Kameraden. Als eine mögliche Erklärung für ihr Handeln müssen einschlägige Computerspiele herhalten. Tatsächlich macht auch die moderne Zeit mit Gruselgefühlen Geschäfte: Längst gibt es Totenköpfe auch als Pizza, Handyhalter und Toilettensitz, und der Schweizer Zahntechniker Freddy Zgraggen schaffte es mit seiner 57-köpfigen privaten Cranium-Kollektion 1992 sogar in Thomas Gottschalks RTL-"Late Night Show". Aus seinem Internet-Gästebuch: "Moin moin, eine super geile sammlung, respect, darauf kannst du stolz sein."