Mordserie: In Berlin mußten sechs junge Frauen sterben, weil sie sich nicht der Moral ihrer muslimischen Familien unterwerfen wollten. Jetzt setzt - endlich, meinen Experten - eine Debatte ein: Wie lange will man in Deutschland über türkische Zwangsehen und deren Folgen noch hinwegsehen?

Berlin. Der Mörder ging auf Nummer sicher und schoß ihr dreimal in den Kopf. Dann machte er sich im Schutz der Dunkelheit davon, denn die Ehre, um die es ihm angeblich ging, verlangte nicht, daß er die Verantwortung für seine Tat übernahm.

Das Verantwortungsbewußtsein wird ihm der Staat erst noch beibringen müssen. Und seinen Brüdern. Und der gesamten Familie. Wenn die Staatsanwaltschaft recht behält, die davon ausgeht, daß Hatun Sürücü am 7. Februar um 20.55 Uhr getötet wurde, nachdem der Familienrat getagt hatte. Jenes Gremium, das im Osten der Türkei traditionell den Lebenswandel der weiblichen Familienmitglieder begutachtet und bei nicht erfolgtem Wohlverhalten Todesurteile verhängt. Nur daß Hatun Sürücü nicht im fernen Anatolien hingerichtet wurde, sondern mitten in Berlin. An der Tempelhofer Oberlandstraße, gegenüber von den alten Union-Film-Studios.

Am Morgen des 14. Februar wurden Hatuns Brüder Mutlu (25), Alpaslan (24) und Ayhan (18) dem Haftrichter vorgeführt, weil sie keine Alibis beibringen konnten und sich in Widersprüche verstrickt hatten. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hat der älteste Bruder die Waffe besorgt, der mittlere die Schwester aus dem Haus gelockt und der jüngste geschossen. In solchen Fällen ist es ja immer der Jüngste, der schießt. Weil er unter das mildere Jugendstrafrecht fällt, das Mord mit maximal zehn Jahren Haft ahndet.

Die Hinrichtung Hatun Sürücüs war der sechste "Ehrenmord" in nur fünf Monaten, der 46. von allen, die seit 1996 in Deutschland aufgelistet worden sind. Aber auch das hätte nicht weiter für Aufregung gesorgt, wenn anschließend nicht etwas passiert wäre, was den Traum von der "multikulturellen Gesellschaft" endgültig zum Platzen brachte.

Am 16. Februar sah sich der Leiter der Berliner Thomas-Morus-Schule dazu veranlaßt, einen offenen Brief zu schreiben, in dem es hieß, er, Volker Steffens, sei schockiert über das Verhalten einiger Schüler und werde diese Schüler "zur Verantwortung ziehen". Damit machte Steffens einen Vorfall öffentlich, der sich in der achten Klasse zugetragen hatte. Dort hatten drei muslimische Schüler während des Unterrichts getönt, Hatun Sürücü habe ihren Tod verdient. "Die Hure" sei ja "herumgelaufen wie eine Deutsche"! Damit, so Steffens, hätten die Vierzehn- bis Fünfzehnjährigen nicht nur den Schulfrieden zerstört, sondern ideologische Hetze betrieben. Sie müßten deshalb mit scharfen Konsequenzen rechnen, sogar ein Schulverweis sei nicht ausgeschlossen.

Während über die Zukunft der Schüler noch nicht entschieden ist, hat der Vorstoß Volker Steffens schon bundesweiten Beifall eingetragen. Kollegen, die sich noch gut an den 11. September 2001 erinnerten, an dem muslimische Schüler Freudentänze aufgeführt hatten, applaudierten nach dem Motto: Endlich sagt mal einer, was los ist! Bischof Huber, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, nannte den 56jährigen sogar einen "Helden".

Tatsächlich sieht es zur Zeit so aus, als würde die Strategie der Verharmloser dieses Mal nicht aufgehen. Zu diesen Verharmlosern gehört der Berliner Schulpsychologe Johann Koch, für den sofort feststand, daß die Schüler nur ihr "Provokationspotential ausgekostet" hätten, und der meinte, das renke sich schon wieder ein.

Und Thomas Kleineidam, der migrationspolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, der dampfplaudernd verlangte, der 7. Februar solle künftig als "Gedenktag für die Opfer von Gewalt gegen Frauen" dienen. "Gutmenschen" nennt man solche Naivlinge in der rechten Szene abschätzig, in muslimischen Kreisen spricht man spöttisch von "Islamverstehern".

Nach Jahrzehnten der politisch verordneten Illusionen und der falsch verstandenen Toleranz könnte der 7. Februar 2005 einen Wendepunkt markieren. Wohl nicht zufällig haben die muslimischen Verbände, von denen es in Deutschland Dutzende gibt, in dieser Woche in Hamburg angekündigt, sie wollten sich in Zukunft enger zusammenschließen und damit dem Bedarf der Gesellschaft und des Staates nach offiziellen Ansprechpartnern nachkommen. Nadeem Elyas, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, erklärte, auch die Imame seien aufgefordert, in den entsprechenden Gremien mitzuarbeiten.

Andererseits war von Elyas nach dem sogenannten Ehrenmord an Hatun Sürücü und den sich anschließenden Ereignissen an der Thomas-Morus-Schule nichts zu hören gewesen. Verwundern mußte das eigentlich niemanden. Zwölf Tage nachdem Semra U. von ihrem Ex-Mann niedergemetzelt worden war und sieben Tage nach einem weiteren "Ehrenmord" an Melek E. (siehe Kasten rechts oben auf dieser Seite), hatte Nadeem Elyas die Frage, ob er die Scharia für die bessere Rechtsordnung halte als das deutsche Grundgesetz, in einem Interview so beantwortet: Unter dem Begriff Scharia verstehe jeder etwas anderes, da müsse man erst einmal feststellen, "was davon in welchem Kontext übertragbar ist". Nun ist die Scharia bekanntlich nicht gerade frauenfreundlich: Das göttliche Gesetz verbietet muslimischen Frauen die Ehe mit sogenannten "Ungläubigen" und sieht als Strafe für Ehebrecherinnen die Steinigung vor, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Die Hamburger Soziologin Necla Kelek zitiert in ihrem neuen Buch "Die fremde Frau. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland" den Imam von Izmir, der den Westeuropäern bereits 1999 drohte: "Dank eurer demokratischen Gesetze werden wir euch überwältigen, dank eurer religiösen Gesetze werden wir euch beherrschen!" Nirgendwo, so Kelek, mache man es den Islamisten so leicht wie in Deutschland. Nach allem, was im Dritten Reich geschehen sei, hätten die Deutschen panische Angst davor, den Islamisten Grenzen aufzuzeigen, beziehungsweise sie energischer zur Integration aufzufordern: "Lieber nimmt man deren Verletzung von Grundrechten billigend in Kauf." So ein Toleranzverständnis komme aber der Selbstaufgabe gleich.

Kelek, 1957 in Istanbul geboren und heute Beraterin der Hamburger Justizbehörde, beschäftigt sich seit Jahren mit der türkischen Parallelgesellschaft. Sie hat kein Verständnis für deutsche Selbstanklagen. Die Türken der dritten und vierten Generation sprächen immer noch kein Deutsch? Sie hätten es längst lernen können, schließlich sei es "eine Selbstverständlichkeit für jeden, der sich entschließt, auf längere Dauer in ein fremdes Land zu gehen, daß er sich bemüht, die Sprache dieses Landes zu lernen".

Man müsse das Kopftuch tolerieren? Falsch, meint Kelek, das Kopftuch sei fatal. "Denn mit dem Kopftuch übernimmt die junge Muslimin den ganzen türkisch-islamischen Common Sense von der Trennung der Gesellschaft. Die Frau gehört ins Haus, der Mann in die Öffentlichkeit. Sie ist die Ehre des Mannes, die sie nicht beflecken darf."

Wie es um diese Ehre bestellt ist, läßt sich am Fall vom Semra U. nachvollziehen. Semra, in Berlin geboren, wurde als Sechzehnjährige in Mus mit ihrem Cousin Cengiz verheiratet. Sie mußte ihn nach Berlin mitnehmen. Dort fing er an, sie zu verprügeln. Als sie sich scheiden ließ, tobte nicht nur der Ehemann, sondern auch der eigene Vater.

Am 25. November 2004 wurde Semra von Cengiz U. auf offener Straße erstochen. Ihr Vater erklärte anschließend, die Familie werde nun für ein schönes Begräbnis sorgen. Und die dreijährige Enkelin wolle man dann auch zu sich nehmen. "Wir möchten ihr ein schönes Zuhause geben."

Zynismus? Oder Unvermögen zu begreifen, daß der Bluttat schwerste Nötigung zugrunde lag?

Soziologin Kelek geht davon aus, daß mindestens die Hälfte aller türkischen Ehen "arrangiert oder erzwungen" werden. Die Uno hat in diesem Zusammenhang bereits vor vier Jahren von einer "modernen Form der Sklaverei" gesprochen. Der Bundesinnenminister ist trotzdem aus allen Wolken gefallen. Einen "alarmierenden Eindruck" habe er bei der Lektüre von Keleks Buch gewonnen, hat Otto Schily (SPD) erklärt, und daß Zwangsheiraten "in einem demokratischen Rechtsstaat auf keinen Fall geduldet werden" dürften!

Daß in diesem Rechtsstaat schon mal Rabatte gewährt werden, wenn es um sogenannte Ehrenmorde geht, hat sich vor vier Jahren gezeigt. Damals befand das Bremer Landgericht im Fall zweier Kurden, die einen Doppelmord begangen hatten, nur auf Totschlag. Begründung: Eine Schlichtung sei nach den archaischen Sitten- und Wertvorstellungen aller Beteiligten nicht mehr möglich gewesen, die "Tötung der Beziehungspartner . . . danach erlaubt". Zwar hat der Bundesgerichtshof dieses Urteil im Februar 2002 kassiert, völlig unbeantwortet ist jedoch nach wie vor die Frage, warum sich die vielen Ehrenmord-Anstifter, die Väter, Onkel, Mütter und Tanten, bislang nicht vor Gericht verantworten mußten.