Vor einem Jahr hat Russland die Schwarzmeerhalbinsel von der Ukraine abgetrennt und sich einverleibt. Ein Ortstermin

Simferopol/Sewastopol. Verblasst ist das sonnige ukrainische Gelb mit dem blauen Wappen an den Briefkästen von Simferopol. Es sind beinahe die letzten Spuren aus einer anderen Zeit – bevor sich Russland im März die Krim einverleibte. Ein Jahr ist das jetzt her. Auch auf Nummernschildern vieler Autos gibt es sie noch, die ukrainischen gelb-blauen Flaggen mit dem Kürzel UA. Doch all das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ukraine die Kontrolle über die Schwarzmeerhalbinsel Krim verloren hat. Blutrote russische Wappen mit dem Doppeladler stechen ins Auge. Wie Warnschilder leuchten sie an Zäunen, Toren von Garnisonen und Gebäudefassaden der Krim-Hauptstadt – Symbole des umstrittenen Systemwechsels auf der Schwarzmeerhalbinsel. Bei den Menschen in Simferopol fällt die Bilanz ein Jahr nach dem „Krimskaja Wesna“ – dem politischen Krim-Frühling – durchwachsen aus.

„Es gibt Minuspunkte, und es gibt Pluspunkte. Auch wenn es im Moment härter ist – fragen Sie, wen Sie wollen: 95 Prozent wollen die alte Zeit nicht zurück“, sagt Viktoria, eine Mutter von drei Kindern in der Fußgängerzone der Karl-Marx-Straße. Sie lobt die Sozialleistungen und die medizinische Gratis-Versorgung, die es anders als vorher nun wirklich gebe. „Aber die vielen neuen Gesetze. Daran müssen wir uns erst gewöhnen“, sagt sie. Klagen der Krim-Bewohner drehen sich um die russische Bürokratie, das Anstehen nach neuen Pässen. Diejenigen mit Grundstück, Haus oder Wohnung ärgern sich über langes Warten, den Papierkram und hohe Kosten, wenn sie ihr Eigentum übertragen lassen.

Die Mittvierzigerin Viktoria hält inne, direkt am Krim-Parlament, gegenüber ein Panzer der Roten Armee aus dem Zweiten Weltkrieg. Er steht ausgerechnet an der zentralen russisch-orthodoxen Kirche. Arbeiter sanieren das Gotteshaus – ein Projekt unter dem Patronat von Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Viktoria und ihr Begleiter Igor räumen ein, dass die ukrainischen Gesetze liberaler gewesen seien. Sorgen machen sie sich aber vielmehr wegen der rasant steigenden Preise. Niemand rechnete vor einem Jahr damit, dass der Hoffnungsträger Russland in eine tiefe Krise fällt. „Aber wir müssen eben ranklotzen. Alles wird gut“, meint Igor.

Beide schauen auf Fotos und Sträuße mit roten Nelken zum Gedenken an jene, die vor einem Jahr in der ukrainischen Hauptstadt Kiew auf dem Maidan durch Schüsse starben. Damals schlugen die prowestlichen Proteste in Gewalt um. Präsident Viktor Janukowitsch verlor seine Macht. Um die in Kiew getöteten Angehörigen der ukrainischen Sonderpolizei Berkut trauert auch der frühere Offizier Wladislaw. „Sie waren meine Freunde“, sagt der 34-Jährige, der heute mit Fahrdiensten und Ferienwohnungen Geld verdient.

„Die Leute waren damals schockiert, als der Präsident gestürzt wurde“, sagt der frühere Soldat. „Keiner hier wollte eine Regierung, die durch Gewalt an die Macht gekommen ist.“ Die nächste Präsidentenwahl war damals bereits in Sicht, das politische Ende für den korrupten Janukowitsch ohnehin nah. Wladislaw sagt, er sei froh, dass der Krim ein Blutvergießen erspart geblieben sei. Er klingt, als tröste er sich damit, dass in der Ukraine alles noch schlimmer sei als hier. „Mir persönlich geht es besser als vorher. In den ukrainischen Streitkräften haben wir als Soldaten gehungert. Wir zählten nichts. Die Kampfmoral war am Boden“, sagt der Ex-Kommandeur. Er habe heute 23.000 Rubel Rente (300 Euro) vom russischen Staat – in der Ukraine seien es umgerechnet 8000 Rubel gewesen.

Echte Gegner des Machtwechsels sind am ehesten über vertrauliche Kontakte zu finden. Bei einem Treffen im Café 23 auf der Karl-Marx-Straße will die frühere Tourismusmanagerin Ella, 40, ihren Nachnamen lieber nicht nennen. Bei rund zwei Millionen Menschen auf der Krim würden Systemgegner von den Geheimdiensten rasch ausfindig gemacht, sagt sie. „Die Leute sind völlig verängstigt. Sie haben am Anfang alle das russische Geld gesehen und sind jetzt ernüchtert“, sagt Ella. Wer sich beschwere, riskiere Druck. Die ethnische Russin wollte ihren ukrainischen Pass nicht abgeben und habe schriftlich erklären müssen, dass sie die neue Staatsbürgerschaft nicht wolle. Die Folgen? „Ich bekomme keine Arbeit. Ich habe in meiner Wohnung, die mein Eigentum ist, nur noch begrenztes Aufenthaltsrecht“, sagt die Mutter eines achtjährigen Sohnes.

Es gibt sie aber auch, die unerschütterlichen Russland-Enthusiasten. Sie haben ihr Zuhause in Sewastopol – seit mehr als 230 Jahren Heimathafen der russischen Schwarzmeerflotte. An der Küstenpromenade der zu Zarenzeiten unter Katharina der Großen gegründeten Metropole bieten Souvenirläden T-Shirts und Tassen mit dem Konterfei von Kremlchef Putin an. Auf Magneten und Tassen sind Landkarten der Krim mit der weiß-blau-roten Trikolore unterlegt. Auch zur kalten Jahreszeit haben Nachtclubs und Restaurants hier geöffnet.

Möwen kreischen. Kapitän Wlad liest mit seinem kleinen Kutter Touristen an einer Anlegestelle auf. Die Besucher kommen vor allem aus Moskau und anderen russischen Städten. Wlad zeigt seine Freude an dem sonnigen Tag mit einem stolzen Lächeln. „Ich fühle mich endlich zu Hause, es ist alles, was ich immer wollte“, sagt er. Er dreht den Daumen nach oben bei der Frage, ob das Leben jetzt besser oder schlechter sei. „Sehen Sie, vorher gab es Unsicherheit, Unruhe, bei der Regierung unter den Orangen war immer Chaos – ich hatte das so satt“, meint er. Er spricht über die Zeit unter der früheren prowestlichen Regierungschefin Julia Timoschenko in Kiew.

Dass weniger Touristen kommen, hält Wlad für eine vorübergehende Flaute. „Es sind trotz der Sanktionen immer noch viele Ausländer: Griechen und Italiener zum Beispiel.“ Vor allem aber hofft er, dass Russland in diesem Frühjahr mit dem Bau der Meeresbrücke zum Küstenort Kertsch beginnt. 2019 soll das Milliardenprojekt stehen, eine Lebensader und ein Ersatz für den sturmanfälligen Fährverkehr.

Bei einer Tour mit seinem Boot durch den Hafen von Sewastopol vorbei an Kriegsschiffen der Schwarzmeerflotte, darunter Kreuzer und U-Boote, bricht es aus dem Kapitän heraus: „Und hier wollten die Amerikaner ankern, in unserem russischen Hafen.“ Auf einem Kriegsschiff weht eine rote Flagge mit einem blauen Andreaskreuz, das Symbol der prorussischen Aufständischen im ukrainischen Kriegsgebiet Donbass, ein Zeichen der Solidarität.

Die Ukraine hatte Tausenden Matrosen der russischen Schwarzmeerflotte und ihren Angehörigen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion per Pachtvertrag ein Bleiberecht im Hafen garantiert. Auf der Lenin-Straße und am Nachimow-Prospekt laufen die Matrosen stolz in ihren schwarzen Uniformen. Am zentralen Nachimow-Platz, an dem ein Denkmal für den Sieg über den Hitlerfaschismus steht, exerzieren junge Rekruten. Sie üben an der Ewigen Flamme den Wachwechsel.

Wer noch vor der „Wiedervereinigung“ mit Russland durch Sewastopol lief, erlebte die Passanten oft verschlossen. Das ist jetzt anders. „Ich habe den Eindruck, dass es jetzt ehrlicher ist, dass ich jetzt so sein kann, wie ich will“, sagt Daria in ihrem kleinen Gemüseladen auf dem Markt. „Das Referendum vor einem Jahr war wie ein Festtag. Es gab so lange Schlangen. Meine Freundin und ich haben extra einen wasserfesten Stift mitgebracht, damit nichts verwischt wird auf dem Stimmzettel“, sagt sie. Was die junge Mutter eines dreijährigen Sohnes aber doch nachdenklich macht, ist etwas, wovon viele Russen und Ukrainer erzählen: der Konflikt habe auch Familien entzweit. „Meine Großeltern wohnen in der Nähe von Kiew. Opa redet nicht mehr mit uns, weil wir Russland unterstützen. Nur Oma noch“, sagt Daria. Sie meint, der Krieg im Donbass zeige, was auf der Krim hätte passieren können. „Es ist gut, dass es bei uns nicht so weit gekommen ist, dass Frieden ist.“