Mit einem „Marsch der Würde“ gedenken Staatsführer in Kiew der Maidan-Proteste. Bombenanschlag und neue Kämpfe überschatten den Tag

Kiew. Zum Jubeln war der Menge nicht zumute. Stattdessen schweigen die Menschen, die am Sonntag zum „Marsch der Würde“ auf den Kiewer Maidan gekommen waren. Über den Boulevard Kreschtschatik schallen klassische Musik und religiöse Gesänge. Am Nachmittag ziehen 30.000 Bürger durch das Regierungsviertel von Kiew. Am Gedenkzug nimmt auch Bundespräsident Joachim Gauck teil, der sich zuvor mit dem deutschen Botschafter Christof Weil und Vertretern der Konrad-Adenauer-Stiftung getroffen hatte.

Mit der Gedenkfeier erinnerte die Regierung an die Maidan-Proteste vor einem Jahr und an die Opfer der Todesschüsse von Kiew. Auf der Institutska-Straße, wo der Marsch startete, wurden zwischen dem 18. und 21. Februar vergangenen Jahres mehr als 80 Demonstranten und mindestens 18 Polizisten erschossen. Grabkerzen flackern am Straßenrand, Kränze erinnern an die sogenannte „Hundertschaft des Himmels“ – so werden die toten Aktivisten heute genannt. „Der Unabhängigkeitsplatz ist ein sakraler, heiliger Ort für jeden Ukrainer“, sagt der prominente Maidan-Aktivist und Ex-Kulturminister Jewgeni Nischtschuk.

Präsident Petro Poroschenko und Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko führen den Gedenkzug an. Auch die Präsidenten Polens und Litauens, Bronislaw Komorowski und Dalia Grybauskaite, haben sich eingehakt. Die beiden Länder zählen zu den stärksten Unterstützern der Ukraine in der EU. Am Zug nehmen auch Vertreter der orthodoxen Kirchen und der jüdischen Gemeinden teil. Sie zeigen damit, dass in Kiew keine antisemitische Regierung an der Macht ist, wie russische Medien andauernd behaupten. „Ich unterstütze die Maidan-Revolution“, sagt Jakov Dov Bleich, Oberrabiner der Ukraine.

„Die Ukraine, das ist Europa“, ruft die Menge immer wieder. Das war auch die Parole der Studenten, die im November 2013 als Erste auf die Straße gegangen waren, um für Europa zu demonstrieren. Damals stand die Ukraine davor, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Nachdem Janukowitsch die Verhandlungen platzen ließ, richtete sich die Wut der Aktivisten gegen die Regierung, gegen Korruption und Kleptokratie. Ein Jahr nach dem Machtwechsel weiß Präsident Poroschenko, dass die Ukraine ohne Hilfe von EU und Internationalem Währungsfonds nicht überleben kann. Die Wirtschaft stürzte um 15 Prozent ab, in der Ostukraine brach die Industrieproduktion um mehr 60 Prozent ein. Die Staatskasse und die Tresore der Nationalbank sind leer.

Neben Ukraine-Flaggen und den blauen Bannern der Krimtataren sind auf dem Maidan vereinzelt die rot-schwarzen Fahnen des Rechten Sektors zu sehen, einer Neonazigruppe. Dem Kreml nahestehende Medien diffamieren die Maidan-Bewegung als rechtsradikal. Die Rechten sind jedoch in der Minderheit und waren nicht die treibende Kraft hinter den Protesten. Im Dezember 2013 gingen knapp 300.000 Menschen für Europa auf die Straße – darunter Studenten, Familien und Rentner. Auch bei den Wahlen erteilten die Ukrainer den Rechten eine Absage. Auch dass ausländische Agenten die Proteste mit Milliarden Dollar finanziert haben sollen, wird oft von Verschwörungstheoretikern behauptet. Zwar haben Geschäftsleute Zelte gesponsert. Gestützt haben sich die Proteste jedoch hauptsächlich auf Tausende Freiwillige, die Brote geschmiert oder Erste Hilfe geleistet haben. Bekannt ist, dass die US-Botschaft und die Vertretung der Niederlande in Kiew mehrere Hunderttausend Dollar an den Sender Hromadske-TV gespendet haben. Der Kanal wurde von Bürgern gegründet, sendet nur im Internet und sollte ein Gegengewicht zu den mehrheitlich regierungsnahen Medien sein.

Der Gedenkmarsch biegt auf den Boulevard Kreschtschatik ein. Auf der Prachtstraße im Stalin-Stil sind die Folgen der Wirtschaftskrise deutlich zu sehen. Restaurants und Cafés schließen, Schaufenster bleiben leer. Die Landeswährung Griwna stürzt immer weiter ab. Wechselstuben tauschen einen Euro zum Kurs von 30 Griwna, vor einem Jahr waren es noch zehn Griwna. Auch die Revolutionsstimmung auf dem Maidan ist verflogen. Auf dem Unabhängigkeitsplatz würden sich inzwischen Militante in Tarnuniformen herumtreiben, kritisieren viele Kiewer. Grimmige Typen ließen sich in Cafés kostenlos bewirten und erpressten Budenbesitzer. „Diese Leute haben mit dem Maidan nichts zu tun“, sagt eine Aktivistin und appelliert an die Polizei, endlich durchzugreifen. Auf dem Maidan ertönt die Neunte Sinfonie von Beethoven. EU-Ratspräsident Donald Tusk und Joachim Gauck lauschen andächtig der Europahymne. Die Ukraine, das wissen die beiden Politiker, ist Europas größte Herausforderung.

In der umkämpften Ostukraine wecken am Wochenende ein Austausch von insgesamt 200 Gefangenen zwischen der Armee und den Aufständischen sowie ein vereinbarter Abzug schwerer Waffen kurz Hoffnung auf Entspannung. Doch mitten in das Gedenken in Kiew platzt die Nachricht von einem Anschlag in Charkow, der zweitgrößten Stadt der Ukraine. Charkow liegt abseits der Kampfgebiete in der Ostukraine, wo sich seit April prorussische Rebellen und ukrainisches Militär gegenüberstehen und bisher mehr als 5600 Menschen bei den Kämpfen starben. Die Großstadt spielte in den dramatischen Tagen des Umsturzes vor einem Jahr eine Rolle. Dort war Janukowitsch nach seinem Sturz vom 22. Februar 2014 zuletzt gesehen worden, bevor er sich nach Russland absetzte. Und östlich der Hafenstadt Mariupol sollen um den Ort Schirokino neue Kämpfe aufgeflammt sein. Über Mariupol könnten die Separatisten eine Landverbindung zur von Russland annektierten Krim herstellen.