Frankreichs Präsident und Kanzlerin Merkel reisen wegen der sich verschärfenden Lage überraschend nach Kiew und Moskau

Kiew/Berlin/Paris/Brüssel. Die westlichen Staaten reagieren mit einer Vermittlungsoffensive auf die Gewaltspirale im Ukraine-Konflikt. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der französische Präsident François Hollande sind am Donnerstagnachmittag überraschend nach Kiew geflogen, am Freitag reisen sie nach Moskau weiter. Dabei solle ein neuer Vorschlag zur Lösung des Konflikts unterbreitet werden, sagte Hollande in Paris. Beide Politiker trafen in Kiew mit dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko zusammen. In Moskau sind Gespräche mit Russlands Staatschef Wladimir Putin geplant. Putins Berater Juri Uschakow sagte, der Präsident sei zu konstruktiven Beratungen bereit. Der Besuch sei ein „positiver Schritt“.

Hollande kündigte an: „Wir werden einen Vorschlag zur Lösung des Konflikts in der Ukraine unterbreiten, der auf der territorialen Integrität der Ukraine basiert.“ Hollande warnte zugleich vor den Gefahren, die von einer weiteren Eskalation ausgehen könnte: „Wir befinden uns in einem Krieg, der zu einem totalen Krieg werden könnte.“ Am Donnerstag befand sich auch US-Außenminister John Kerry zu Gesprächen mit der ukrainischen Regierung in Kiew. Dabei wollte er die Unterstützung der USA bei der Rückkehr zu ernsthaften Verhandlungen zusagen, wie ein Sprecher sagte. Kerry habe zudem finanzielle Hilfen der USA für die Zivilbevölkerung in Höhe von 16,4 Millionen Dollar im Gepäck. Auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) befindet sich wegen des Ukraine-Konflikts auf diplomatischer Mission. In Riga beriet er zunächst mit seinem lettischen Amtskollegen über die Lage. Anschließend flog er weiter nach Warschau.

Seit Tagen hatten Deutsche und Franzosen heimlich eine neue diplomatische Initiative im Ukraine-Konflikt vorbereitet. Mit der diplomatischen Großoffensive der beiden wichtigsten EU-Staaten soll der militärischen Großoffensive der prorussischen Separatisten, aber auch allen Illusionen in Kiew begegnet werden, dass dieser Konflikt militärisch zu lösen sei. Denn wie dramatisch die Lage etwa in Berlin eingeschätzt wird, zeigte die Warnung Steinmeiers bei seinem Besuch in Warschau, die Lage drohe „völlig außer Kontrolle“ zu geraten.

Kanzlerin und Präsident haben deshalb jetzt die höchste diplomatische Karte gezogen, nämlich einen Besuch in den beiden Konflikt-Hauptstädten Kiew und Moskau. Das hat vor allem mit dem enormen Druck zu tun, unter dem der ukrainische Präsident Poroschenko, aber auch die EU-Regierungen und die amerikanische Administration stehen. Bereits am Dienstagabend, als Merkel und Steinmeier in Berlin die Lage ausführlich besprachen, war man sich in der Bundesregierung einig, dass die militärische Lage für die Ukrainer sehr schwierig ist. Schwer bewaffnet und neu ausgerüstet durch Russland haben die Separatisten einen Großangriff begonnen, der klar auf weitere Geländegewinne in der Ostukraine zielt. Steinmeier zeigte sich ungewohnt offen. Es habe sich gezeigt, „dass die Umsetzung der Minsker Vereinbarung offensichtlich nicht gewollt ist und dass sie gezielt mit neuer Gewaltanwendung unterlaufen worden ist“, sagte er in Riga mit Blick auf den im September zwischen den Konfliktparteien vereinbarten Plan zur Deeskalation. Nun soll versucht werden, in der Ukraine zu retten, was noch zu retten ist.

Auch unter EU-Diplomaten herrscht die Einschätzung vor, dass das Festhalten an dem Minsker Abkommen ohne eine wichtige Änderung wenig bringt. „Die Separatisten haben seit September 500 Quadratkilometer erobert – die sind nicht wieder rückholbar, auch nicht mit Waffenlieferungen“, sagte etwa ein hoher EU-Diplomat. Eine Befriedung, so haben Merkel und Steinmeier immer wieder in den vergangenen Tagen betont, gehe also nur auf politischem Weg. Bei den Gesprächen in Kiew dürften sie deshalb Poroschenko auch daran erinnert haben, endlich eine neue Verfassung und den Sonderstatus für die Ostukraine zu verabschieden. Dies könnte den Vorwurf der prorussischen Rebellen einer angeblichen Benachteiligung durch Kiew widerlegen.

Das Dilemma ist aber auch in der EU groß: Einerseits sieht man die Notwendigkeit, der Ukraine gegen das als Aggressor empfundene Russland zu helfen. Andererseits warnen Merkel und Steinmeier offen vor einer Rüstungsspirale durch westliche Waffenlieferungen. Auch der wirtschaftliche Aufschwung der Ukraine könne erst nach einer Befriedung der Lage im Osten einsetzen, heißt es. Deshalb will die Bundesregierung an der Politik „Verhandlungen, notfalls Sanktionen“ festhalten. Nur wächst mit jedem Landgewinn der Separatisten die Kritik, dass die EU letztlich Putin in die Hände spiele.

Für Merkel ist die diplomatische Offensive aber auch vor dem Hintergrund ihrer bevorstehenden Termine wichtig: Am Montag trifft sie in Washington auf US-Präsident Barack Obama, der innenpolitisch unter Druck der Russland-Falken im US-Kongress steht, endlich Waffen an Kiew zu liefern. Am Donnerstag muss dann der EU-Gipfel über neue Russland-Sanktionen entscheiden. Gerade mit der neuen griechischen Regierung im Klub der 28 ist das Spektrum der Meinungen über den richtigen Umgang mit Russland noch größer geworden. Entweder Merkel und Hollande kommen also mit einer Art Friedensplan aus Moskau zurück. Dann könnte dies den Weg für eine weiche Antwort an Russland auf dem EU-Gipfel ebnen. Scheitert die diplomatische Offensive dagegen, dann können beide auf dem EU-Gipfel immerhin belegen, dass sie wirklich alle diplomatischen Optionen ausprobiert haben. Dieser Nachweis wäre für eine mögliche Verschärfung der Russland-Sanktionen wichtig.