Trauerfeier in Jerusalem für die Terroropfer im Pariser Supermarkt – Netanjahus Regierung erwartet Einwanderungswelle aus Europa

Tel Aviv. Die Leichen der vier Opfer des Attentats auf einen koscheren Supermarkt in Paris wurden am Dienstag in Jerusalem auf dem Ölberg bestattet, darunter auch die von Philippe Braham. Er wollte am Freitag vergangener Woche noch schnell Lebensmittel für den jüdischen Schabbat kaufen, als Attentäter Amedy Coulibaly in das Geschäft stürmte. Die Nachricht vom Tod seines Vaters erreichte seinen 14-jährigen Sohn Refael in Israel. Gemeinsam mit seiner Mutter war er im vergangenen Sommer dorthin ausgewandert. „Wenn ich nicht nach Israel gekommen wäre, wäre ich vielleicht mit meinem Vater in dem Geschäft gewesen und jetzt tot“, sagt der Junge.

Von seinem Vater und den drei weiteren Opfern wurde in einer bewegenden Zeremonie Abschied genommen: Die Verwandten hielten eine kurze Ansprache und zündeten eine Fackel an. Präsident Reuven Rivlin, Regierungschef Benjamin Netanjahu und dessen Frau umarmten die Hinterbliebenen, als sie von der Bühne kamen, hinter der eine große israelische Flagge hing.

Die Leichen von Joav Hattab, Johan Cohen, Philippe Braham und François-Michel Saada waren am Morgen aus Frankreich überführt worden. Ihre Familien hatten Israel um eine Beisetzung im Gelobten Land gebeten. „Joav, Johan, Phillipe, François-Michel – so wollten wir euch nicht in Israel willkommen heißen“, sagte Präsident Rivlin mit bebender Stimme. „In Augenblicken wie diesen stehe ich vor euch, mit gebrochenem Herzen, getroffen und in Schmerz, und mit mir steht und weint eine ganze Nation.“ Nach dem Terroranschlag hatten die Familien der vier Opfer Israel um eine Beisetzung im Gelobten Land gebeten.

In Jerusalem ist man überzeugt, dass nun eine Einwanderungswelle bevorsteht. Nach den Anschlägen in Paris rechnet Israels Einwanderungsministerin Sofa Landwer in diesem Jahr mit mindestens 10.000 Einwanderern allein aus Frankreich. „Wir sind auf einen echten Ansturm vorbereitet“, sagte die Ministerin. In Frankreich leben derzeit rund eine halbe Million Juden. Und schon vor den Attentaten warb Israels Einwanderungsministerium in Frankreich aktiv um jüdische Immigranten. Neueinwanderern winken viele Erleichterungen und Vergünstigungen.

Premierminister Benjamin Netanjahu erklärte bereits, jeder Jude werde „in Israel mit offenen Armen empfangen“, jüdische Zeitungen mutmaßten, dem Land der Croissants stehe nun ein Exodus der jüdischen Bevölkerung bevor. Tatsächlich hat die Auswanderungswelle aus Europa längst begonnen. So schätzte der „Jewish Chronicle“ dass bereits 100.000 Juden Frankreich Richtung Großbritannien, Kanada, USA und Israel verlassen haben. Die Zahl jüdischer Einwanderer aus Westeuropa nach Israel hat sich 2014 fast verdoppelt, allein aus Frankreich kamen fast 7000 Menschen – doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Eine stetig wachsende Zahl französischer Juden fühlt sich inzwischen im Konfliktland Israel – wo es auch ständig Anschläge gibt – sicherer als im Zentrum Europas. Das merkt man nirgends deutlicher als auf der Ben-Yehuda-Straße in Tel Aviv. Es gab Zeiten, da galt diese Hauptverkehrsader als deutsche Hochburg. Als in den 30er-Jahren Zigtausende deutsche Juden vor den Nazis flohen, schufen sie hier ein neues Zuhause: Buchhandlungen boten Goethe in der Originalfassung feil, während man sich in Praxen von deutschen Ärzten behandeln lassen oder auf dem Bürgersteig auf Deutsch nach dem Weg fragen konnte. Bis heute trifft man sich im Café Mersand zum Kränzchen. Doch was selbst Israelis lange Ben-Yehuda-Straße nannten, musste bald seinen Namen ändern. Tausende französische Juden, die in vergangenen Jahren nach Israel auswanderten, machen aus der Straße allmählich eine Avenue: In Schaufenstern der Makler werden Immobilien auf Französisch angepriesen, Nagelstudios und Haarsalons werben mit „nous parlons français“, während die Auslagen zahlreicher Boulangerien und Pâtisserien Willensschwache zumindest kulinarisch nach Frankreich versetzen.

Ben Cohen und Laurent Baruch schlürften im Courcelles einen Café au Lait. Sie sind Jugendfreunde, 32 Jahre alt, und stammen aus Paris. Das Attentat auf „Charlie Hebdo“ hat sie „sehr überrascht“, sagt Cohen. Nicht jedoch der Angriff auf den koscheren Supermarkt. „Mit so etwas habe ich seit langem gerechnet“, sagt er. Genau das sei der Grund gewesen, weshalb er seine alte Heimat bereits vor sieben Jahren verließ. Schon als Schulkinder haben beide zunehmenden Antisemitismus erfahren: „Der Hass ging vor allem von Kindern arabischer Herkunft aus“, sagt Cohen. Wenn diese erfuhren, dass man Jude sei, „wünschten sie uns immer, dass wir zur Hölle gehen mögen.“ Ein Wendepunkt für ihn war die Ermordung des jüdischen DJs Sébastien Selam im November 2003: „Ein arabischer Nachbar schlitzte ihm den Hals auf und durchlöcherte sein Gesicht mit einer Gabel. Der Mörder sagte später aus, er habe ihn nur ermordet, weil er Jude war, und weil er nun direkt ins Paradies könne. Doch statt ins Gefängnis schickte die Justiz ihn in eine psychiatrische Anstalt. Da verstand ich, dass die Behörden uns nicht schützen wollen“, sagt Cohen.

Das ist seit den Anschlägen anders: Französische Polizisten und Soldaten schützen auf Anweisung der Regierung nun die 717 jüdischen Schulen und Einrichtungen im Land. „Wir sind in einer Kriegssituation“, hatte der Präsident der jüdischen Dachorganisation Crif, Roger Cukierman, am Sonntag gesagt.

Zu den Auslösern der Auswanderungswelle gehören ein Anstieg antisemitischer Vorfälle in Frankreich und die Angst vor Anschlägen. „Es herrscht dort viel Judenhass, alle sollten nach Israel kommen“, sagt Refaels Mutter Carole, die Ex-Frau von Philippe Braham. „Mein Sohn und ich fühlen uns hier am sichersten.“