Beim Gipfeltreffen im walisischen Newport wird die Uneinigkeit der Mitglieder über die weitere Gültigkeit des Grundsatzvertrags von 1997 erkennbar

Hamburg. Manche Generäle der Nato, so soll in Brüssel getuschelt werden, seien keineswegs sehr unglücklich über den eskalierenden Ukraine-Konflikt. Denn sie beende die Sinn- und Identitätskrise der Allianz, unter dem sie seit dem Mauerfall gelitten habe.

Der zynische Spruch enthält ein Körnchen Wahrheit. Die Nato war 1949 als Abwehrpakt des Westens gegen den sich militärisch organisierenden Ostblock unter Führung der Sowjetunion gegründet worden. 40 Jahre lang standen sich zwei hochgerüstete Militärpakte gegenüber. Doch seit dem Ende des Kalten Krieges stand die westliche Militärallianz nahezu zur Disposition und suchte ihre Existenzberechtigung vor allem mit der Bedrohung durch den global agierenden Terrorismus mühsam zu rechtfertigen.

Der Gipfel der Atlantischen Allianz im malerischen, aber streng abgeschirmten Luxushotel Celtic Manor Resort im walisischen Newport steht nun im Zeichen einer neuen Ost-West-Konfrontation. Die Nato erwägt inzwischen verstärkte Truppenverlegungen in ihre östlichen Mitgliedstaaten Polen, Lettland, Litauen und Estland, die sich vor Russland fürchten. Und sie will eine zweite, bis zu 5000 Soldaten umfassende schnelle Eingreiftruppe aufstellen, die man neben der bestehenden Nato Response Force (NRF) einem möglichen Grenzverletzer entgegenwerfen könnte, allerdings viel schneller als die NRF – nämlich schon innerhalb von zwei bis drei Tagen. An ihr sollen dann auch die Baltenstaaten beteiligt sein.

Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Moskau und die Invasion regulärer russischer Kampftruppen in die Ukraine haben die europäische Sicherheitsarchitektur schlagartig verändert. Zwar besteht weitgehende Einigkeit darin, dass man dem mehr oder weniger offen geäußerten Aufnahmewunsch des ukrainischen Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk ganz sicher nicht entsprechen wird. In Artikel 10 des Atlantikvertrages heißt es nämlich, das neue Mitglied müsse in der Lage sein, zur Sicherheit des Nato-Gebietes beizutragen. Davon kann im Fall der Ukraine keine Rede sein. Und völlige Einigkeit herrscht in der Allianz bezüglich der Überzeugung, dass eine militärische Lösung dieses Konfliktes auf gar keinen Fall infrage kommt.

Russland wird von der Allianz allerdings nicht mehr als Sicherheitspartner betrachtet, sondern wieder als potenzieller Gegner. Der britische Premier David Cameron zog gar einen brisanten Vergleich und warnte davor, den russischen Präsidenten Wladimir Putin, wie einst Adolf Hitler 1938, zu beschwichtigen. Die Nato muss sich künftig auch verstärkt mit der gefürchteten „hybriden Kriegsführung“ befassen, wie sie Russland gerade in der Ukraine demonstriert – dem gemischten Einsatz von Guerilla-Kräften wie den prorussischen Separatisten und regulären Truppen mit Hightech-Bewaffnung.

Doch darüber, wie man der russischen Aggression in der Ukraine im Detail begegnen solle, wird in der Allianz gestritten. Im Zentrum dieses Streits steht die Gründungsakte des Russland-Nato-Paktes, die 1997 in Paris unterzeichnet wurde. Moskau beharrt darauf, dass dieses Abkommen die Stationierung von Nato-Kampftruppen in den früheren Warschauer-Pakt-Staaten untersagt. Bundeskanzlerin Angela Merkel will sich an den Geist dieses Vertrages halten; auch Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen sagte, Deutschland fühle sich daran gebunden. Polens Verteidigungsminister Tomasz Siemoniak dagegen stellte die Gründungsakte kürzlich infrage und meinte, die Nato solle „ihre Mitglieder verteidigen und nicht auf Dokumente starren“. Eine Haltung, die auch die Balten, die Rumänen und Bulgaren vertreten. Der estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves sagte, wenn eine Akte in Teilen nicht mehr gültig sei, müsse man sie eben ändern.

In diesem Dokument ist allerdings auch der „Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegeneinander oder gegen irgendeinen anderen Staat, seine Souveränität, territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit“ festgeschrieben. Russland hat mit seinem Verhalten gegenüber der Ukraine fraglos gegen Geist und Buchstaben des Abkommens verstoßen. Zudem sagte die Nato in der Akte lediglich zu, dass sie „in dem gegenwärtigen und vorhersehbaren Sicherheitsumfeld“ (1997) darauf verzichtet, zusätzliche Kampftruppen in den Oststaaten zu stationieren. Das Festhalten der Bundesregierung an diesem Abkommen entspricht vor allem dem politischen Wunsch, eine weitere Eskalation zu verhindern.

Der scheidende Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen – er wird am 1. Oktober vom zweimaligen norwegischen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg abgelöst – sagte, es sei „allen klar, dass Russland die Grundprinzipien“ der Akte gebrochen habe. Dennoch wolle die Allianz daran festhalten. Der frühere dänische Ministerpräsident Rasmussen ist in der Nato als Scharfmacher umstritten.

„Russland greift die Ukraine an“, sagte er am Donnerstag beim Gipfelauftakt; „wir haben es mit einem dramatisch veränderten Sicherheitsumfeld zu tun.“ Er forderte Russland auf, seine Beteiligung an der Destabilisierung der Lage in der Ukraine zu beenden und seine Truppen abzuziehen. Zuvor hatte Rasmussen die Atmosphäre durch Warnungen an Moskau aufgeheizt, es werde bei einem Angriff auf Nato-Territorium nicht nur auf nationale Truppen, sondern auf Nato-Einheiten treffen. Man müsse sich der Tatsache stellen, dass die Nato „Russland nicht als Partner sieht“. Vom Sozialdemokraten und Rudolf-Steiner-Schüler Stoltenberg wird ein besonnenerer Ton erwartet.