Der türkische Regierungschef hat die Präsidentenwahl bereits im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit gewonnen

Istanbul. Schon bald nach Schließung der Wahllokale stand fest: Der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan hat die Präsidentenwahl mit deutlichem Vorsprung gewonnen. Der 60-Jährige strebt nun zwei Amtszeiten von je fünf Jahren an. Nach seinem Willen soll das Staatsoberhaupt, das bisher eher repräsentative Aufgaben hatte, mit neuen Befugnissen ausgestattet werden. Es handelte sich um die erste direkte Wahl des Präsidenten. Bislang wurde das Staatsoberhaupt vom Parlament bestimmt. Der AKP-Chef wird vor allem von religiös-konservativen Türken unterstützt. Sie heben etwa die wirtschaftlichen Erfolge des Landes hervor, das Nato-Mitglied und EU-Beitrittskandidat ist. Kritiker beklagen dagegen, dass die Türkei unter Erdogan immer stärker von ihrer weltlichen Orientierung abrückt und Bürgerrechte beschnitten werden.

Aber Erdogan kann nicht nur auf Unterstützung aus seiner Partei und seinem Umfeld rechnen. Im Istanbuler Viertel Tarlabasi lässt die Regierung weite Teile des Armenviertels im Stadtzentrum gerade abreißen, dort sollen luxuriöse Geschäfte, Wohnungen und Büros entstehen. Arbeitslose und Gelegenheitsarbeiter sitzen am Straßenrand. Eine Hochburg der islamisch-konservativen Regierung ist Tarlabasi nicht. Doch auch hier finden sich Wähler, die ihre Stimme Erdogan gegeben haben. „Es gibt keine Alternative zu Erdogan“, sagt Bülent Alparslan, der gerade seinen Lottoschein ausfüllt. Befürchtungen, Erdogan könnte als Präsident noch autoritärer als bislang herrschen, tut der 36-jährige Textilarbeiter ab. „Er ist sowieso schon mächtig.“ Alparslan ist Kontinuität wichtiger als die Ungewissheit, die ein anderer Präsident bringen würde. Und er rechnet Erdogan die wirtschaftlichen Erfolge der Türkei an. „Zumindest hat seine Regierung viel erreicht“, sagt er. „Auch wenn sie gestohlen hat.“

Mit dieser Haltung steht Alparslan nicht alleine da. Zwar hatte die Erdogan-Regierung mit gewaltigen Korruptionsvorwürfen zu kämpfen. Manche Türken, die sich an frühere Regierungen erinnern, verweisen aber darauf, dass diese mindestens so korrupt gewesen seien – das Land aber nicht annähernd so rasant vorangebracht hätten wie Erdogan. Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich während seiner mehr als elfjährigen Regierungszeit verdreifacht. Der Anteil der Armen an der Bevölkerung ist von mehr als 20 Prozent auf 2,3 Prozent gesunken. Die wirtschaftlichen Erfolge sind Erdogans größter Trumpf und sorgen dafür, dass der 60-Jährige heute trotz zahlreicher Krisen mächtiger denn je dasteht. Die Gezi-Proteste, bei denen im vergangenen Sommer Millionen Türken gegen seinen autoritären Regierungsstil demonstrierten, sind versandet. Im Streit mit seinem einstigen Verbündeten, dem in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen, hat Erdogan bislang die Oberhand behalten. Gegen angebliche Gülen-Anhänger in Polizei und Justiz geht die Regierung massiv vor.

Erdogan hat seine Anhänger besonders bei einkommensschwachen, ländlichen und wenig gebildeten Bevölkerungsteilen. Für sie wiegt der Lohnzettel schwerer als Twitter-Sperren oder westliche Kritik an Erdogan. Die Opposition ist demoralisiert. Zwar einigten sich die beiden größten Oppositionsparteien CHP und MHP auf Ekmeleddin Ihsanoglu, 70, als Gemeinschaftskandidaten. Der Wahlkampf des früheren Generalsekretärs der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) blieb aber farblos. Der kurdische Kandidat Selahattin Demirtas, 41, von der kleineren HDP war charismatisch, hatte aber von vornherein keine Chance auf einen Sieg.

Nicht viele Politiker können eine solche Erfolgsbilanz aufweisen wie Erdogan: Seit er die islamisch-konservative AKP 2002 an die Macht führte, hat er keine Wahl verloren. Der Einzug in das höchste Staatsamt ist die Krönung seiner steilen Karriere, die Erdogan 1994 als Bürgermeister von Istanbul begann. Erdogan ist kein Diplomat, der den Kompromiss sucht. Im Gegenteil: Er ist ein Machtmensch, der keinen Kampf scheut und der die Türkei polarisiert hat. Er geht Kontrahenten hart an und legt eine aggressive Rhetorik an den Tag, die gelegentlich in Wut umzuschlagen scheint. In seinen Reden bezieht sich Erdogan immer wieder auf das Osmanische Reich, das nach dem Ersten Weltkrieg unterging und durch eine Republik ersetzt wurde, in der eine Trennung von Staat und Religion gilt. Seine Jugend verbrachte Erdogan im Istanbuler Arbeiterviertel Kasimpasa, dort gibt es keine der europäisch geprägten Eliteschulen. Er lernte, sich durchzuboxen. Er kickte auf dem Fußballplatz und spielte in der Amateurliga. Sein politischer Aufstieg erfolgte gegen massiven Widerstand vor allem des Militärs, das sich als Hüter des Erbes von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk sieht – und das von Erdogan inzwischen weitgehend entmachtet wurde. Nach dem AKP-Sieg bei den Kommunalwahlen im vergangenen März kündigte Erdogan an, Gegner „bis in ihre Höhlen“ verfolgen zu wollen.

In der EU sorgen Erdogans Aussagen und sein zunehmend autoritärer Regierungsstil für Irritationen. Westliche Staats- und Regierungschef lassen sich kaum noch in Ankara blicken. Wie unangenehm solche Besuche werden können, musste im April Bundespräsident Joachim Gauck erleben. Nach verhaltener Kritik des früheren Pfarrers Gauck an Demokratiedefiziten in der Türkei kam es zum Eklat. Erdogan spottete: „Der deutsche Staatspräsident sieht sich immer noch als Priester.“