Ukrainischer Kampfjet sei nahe der Boeing gewesen. Leichen auf dem Weg nach Amsterdam

Moskau. Zu nächtlicher Stunde – um 1.40 Uhr Moskauer Zeit – meldet sich Kremlchef Wladimir Putin zum rätselhaften Absturz der malaysischen Passagiermaschine MH17 zu Wort. Als ließen ihm die fast 300 Toten keine Ruhe – die Absturzopfer des Flugzeuges, das im Konfliktgebiet Ostukraine sehr wahrscheinlich von einer Rakete vom Himmel geholt wurde.

Die als Videobotschaft veröffentlichte Rede kann der Ex-Geheimdienstchef wie im Schlaf. Er warnt vor voreiligen Schuldzuweisungen an die prorussischen Separatisten und fordert eine internationale Untersuchung. Vor allem will er verhindern, dass der mutmaßliche Abschuss weiter politisch instrumentalisiert werde. Trauern und Aufklären statt Hetze gegen Russland, verlangt er.

Der 61-Jährige dürfte die ungewöhnliche Stunde auch wegen des zuvor immer stärker gewachsenen Drucks gewählt haben. Australien warnt ihn vor einem Ausschluss vom G20-Gipfel im November, sollte Russland nicht aktiv auf die Separatisten einwirken und bei der Aufklärung der Katastrophe helfen. Deutschland, Frankreich und Großbritannien drohen der russischen Wirtschaft mit neuen Strafmaßnahmen.

Putin besuchte am Montag ausgerechnet einen Raketenhersteller

Demonstrativ besuchte der Kreml-Chef am Montag ausgerechnet den Raketenbauer Progress in Samara. Dabei prangte auf Titelseiten vieler Zeitungen weltweit Putins Name samt seinen Raketen – als der mögliche Schuldige für den Tod der Passagiere von Flug MH17. Der schon oft als Mörder Beschimpfte sieht die Verantwortung bei der Ukraine. Nach Angaben des russischen Militärs flog ein Abfangjäger vom Typ Suchoi-25 auf die Boeing zu. „Die Entfernung der Su-25 zur Boeing lag zwischen drei und fünf Kilometern“, sagte Generalleutnant Andrej Kartopolow vom russischen Generalstab. So ein Kampfjet sei mit Luft-Luft-Raketen bewaffnet, die auf diese Entfernung ein Ziel hundertprozentig zerstören könnten. Die Ukraine solle Auskunft über dieses Flugzeug geben, forderte er.

Auch ganz Russland rätselt nach der Katastrophe vom Donnerstag darüber, wer die Boeing 777 abgeschossen hat: die von Moskau unterstützten Separatisten? Oder doch die Ukrainer? Die kremltreue Boulevardzeitung „Komsomolskaja Prawda“ stellt die im Reich der Verschwörungstheorien populäre Frage: „Wem nützte das?“ Die Antwort ist klar: Die ukrainische Führung erreiche damit ihr Ziel, den Konflikt angesichts der vielen getöteten Ausländer zu internationalisieren. Sie könne nun Waffen oder sogar einen Militäreinsatz des Westens verlangen, heißt es etwa. Gelegen komme Kiew der Absturz zudem, um abzulenken von der schweren Lage eigener Soldaten, die zu Hunderten bei der „Anti-Terror-Operation“ verletzt und getötet werden.

Dass die Ukraine die inzwischen kaum noch hinterfragte Version vom Abschuss schon kurz nach dem Absturz verbreitete, nährt in Moskau ebenfalls Spekulationen, es könnte sich um eine inszenierte Aktion der Ukrainer handeln. Zwar würden die USA und die Ukraine immer wieder von Bildbeweisen, Satellitenaufnahmen sprechen, aber öffentlich präsentiert seien die bisher nicht, schimpfen russische Kommentatoren.

Das Entsetzen ist auch in Russland groß, wie die vielen Blumen an der niederländischen Botschaft in Moskau zeigen. „Verzeiht uns!“ – steht dort auf vielen Notizen. Vor allem kritische Bürger trauen dem Kreml und seinen Gefolgsleuten in der Ostukraine den Abschuss einer Passagiermaschine zu.

Die internationale Empörung über die Zustände an der Absturzstelle zeigt derweil Wirkung. Am Montagabend hatte ein Kühlzug mit rund 200 Opfern die Rebellenstadt Tores verlassen. Die Leichen sollten in die von der ukrainischen Regierung kontrollierte Stadt Charkow gebracht und von dort aus nach Amsterdam ausgeflogen werden. Nach Angaben der Regierung in Kiew wurden bis Montagnachmittag Leichen und Leichenteile aller 298 Opfer gefunden. Die Bergungsarbeiten seien eingestellt worden.

Der malaysische Regierungschef Najib Razak meldete, dass der Separatistenführer Alexander Borodaj telefonisch eingewilligt habe, die Flugschreiber der Boeing noch am Montagabend malaysischen Ermittlern zu übergeben. Beobachter befürchten aber, dass eine sachgemäße Ursachenermittlung nicht mehr möglich ist. Von der Stadt Charkow aus – 300 Kilometer vom Unglücksort entfernt – begannen ausländische Luftfahrtexperten damit, die Absturzursache genauer zu untersuchen – anhand von Fotos. Am Abend forderte eine Resolution des Uno-Sicherheitsrats einen sicheren und uneingeschränkten Zugang zur Absturzstelle.