Das EU-Parlament wählt den Luxemburger Jean-Claude Juncker zum Kommissionspräsidenten. Das wird die Wähler freuen, aber nicht alle Regierungschefs.

Jean-Claude Juncker nimmt seinen Erfolg auf recht trockene Art hin: Ob er die Wahl annehme, fragt ihn Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments, ob er einverstanden sei, dass er, Schulz, das Ergebnis der Wahl nun nach Brüssel übermittle. Es sei „mehr als ein Akt der Höflichkeit“, diese Frage zu bejahen, sagt Juncker, der Präsident der nächsten EU-Kommission. Und bittet Schulz: „Bitte schicken Sie eine Kopie an alle“, an alle Hauptstädte. Die Regierungschefs sollen wissen, dass hier in Straßburg gerade ein Kommissionspräsident gewählt wurde, der es ihnen nicht leicht machen wird.

Vielleicht hat es der ein oder andere von ihnen schon bereut, sich für Juncker ins Zeug gelegt zu haben, so wie David Cameron das prophezeite. Juncker hat an seinem großen Tag, dem Tag seiner Wahl, nicht gespart mit Bekundungen des Selbstbewusstseins: „Ich will eine politischere EU-Kommission“, sagte er bei seiner Bewerbungsrede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg. Der Europäische Rat, das sind die Staats- und Regierungschefs, habe das Nominierungsrecht – „aber das macht aus dem Kommissionspräsidenten nicht den Sekretär des Rates“, sagte Juncker.

26 von 28 EU-Staaten haben Juncker im Rat nominiert. Nun hat er auch den nächsten Schritt geschafft. Das Parlamentsplenum wählte den 59-Jährigen mit 422 Stimmen zum Präsidenten der nächsten EU-Kommission. 250 Abgeordnete stimmten gegen ihn. 47 Enthaltungen, zehn ungültige Stimmen – ein sehr gutes Ergebnis insgesamt. Juncker bekam mehr Stimmen als vor fünf Jahren der heutige Amtsinhaber José Manuel Barroso. Am 1. November wird er sein Amt antreten. In Straßburg verspricht er: Kommission und Parlament müssten noch enger zusammenarbeiten. „Ich sehe es so, dass Präsident Schulz mein engster Gesprächspartner sein wird.“

422 Stimmen sind Vertrauensvorschuss und Verpflichtung für den Gewählten

Das Parlament hat sich durchgesetzt im Ringen um Besetzung des europäischen Spitzenamts: Juncker, ein Mann des Parlaments, so präsentiert er sich, so wollen ihn die Abgeordneten sehen. Er habe um die Mehrheit im Parlament eher gebangt als um die im Rat, sagt Juncker. „Ich bin dem Europäischen Parlament sehr dankbar.“ Von einem „historischen Tag“ spricht der Fraktionschef der christdemokratischen EVP, Manfred Weber (CSU). „Wir stärken die europäische Demokratie“, sagt Guy Verhofstadt, der den Liberalen vorsitzt. Das Parlament habe Geschichte geschrieben, findet auch Schulz: „Gegen viele Widerstände und mit vielen Kontroversen sind wir heute zu einem grandiosen Abschluss gekommen.“

422 Stimmen aus geheimer Wahl, dass sind – grob überschlagen – die beiden großen Fraktionen, Christdemokraten und Sozialdemokraten, dazu Liberale, auch von den Grünen kamen Signale für Junckers Unterstützung. 422 Stimmen sind ein Vertrauensvorschuss und eine Verpflichtung für den Gewählten. Denn die Partner dieser informellen großen Koalition fordern nun den Preis für ihre Unterstützung ein – und zwar jeder den seinen. Es wird nicht leicht für den Christdemokraten Juncker, die Wünsche alle zu erfüllen. Und für seine Partei wird es nicht leicht, in Junckers Programm ein konservativ-christdemokratisches zu sehen.

In seiner Antrittsrede am Morgen vor der Wahl hakt Juncker die Kernforderungen der EVP alle ab. Weber hatte sie noch einmal definiert: Strukturreformen und keine Konjunkturprogramme sollen für Wachstum sorgen. Am Stabilitätspakt dürfe nicht gerüttelt werden. Die EU solle sich auf europäische Aufgaben konzentrieren und die anderen lassen, Subsidiarität ist das große Schlagwort. Und die EU solle außenpolitisch mit einer Stimme sprechen. Alles Punkte, die auch in den „politischen Leitlinien“ der neuen Kommission vorkommen, die Juncker formulierte. Der oder die künftige EU-Außenbeauftragte werde „von anderen sektoriell zuständigen Kommissaren unterstützt werden“, sagte er, soll also Stellvertreter bekommen. „Ich werde dafür sorgen, dass der Hohe Repräsentant nicht von den EU-Außenministern ausgebremst wird“, kündigte er an. In der Fiskalpolitik werde er auf Einhaltung der Regeln bestehen: Die EU habe Stabilität versprochen. „Ich werde dieses Versprechen nicht brechen“ – aber „verstärkt“ auf die Flexibilität achten, die die Sozialisten einfordern.

„Wir wissen, dass Sie kein Sozialist sind, Sie müssen auch keiner werden“, sagte der Italiener Gianni Pittella, ihr Fraktionschef – sichtlich zufrieden damit, dass er so viele Punkte aus der eigenen Agenda in Junckers Programm findet. Denn Juncker wirbt mit einem auf drei Jahre angelegten 300 Milliarden Euro schweren Investitionsprogramm gegen Arbeitslosigkeit um Zustimmung. Das „anspruchsvolle Investitionspaket“ aus öffentlichen und privaten Mitteln solle mehr Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und soziale Gerechtigkeit ermöglichen, sagte Juncker, es solle die „Re-Industrialisierung Europas“ fördern – und schon im Februar 2015 ausgearbeitet sein.

Europa müsse wieder ein attraktiver Standort sowohl für Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer werde: „Die Wirtschaft muss den Menschen dienen, nicht umgekehrt“, Profitgier dürfe nicht vor sozialen Errungenschaften gehen. Er sei ein „begeisterter Anhänger“ der sozialen Marktwirtschaft und wolle „ein Kommissionspräsident des sozialen Dialogs sein“, sagte Juncker. Die „Jugendgarantie“ verspricht allen jungen Europäern binnen vier Monaten Aus- oder Fortbildung oder einen Arbeitsplatz. Juncker will sie ausweiten auch auf nicht mehr ganz Jugendliche: „Ich möchte schrittweise das Alter von 25 auf 30 erhöhen.“ Applaus bekommt er immer wieder – vor allem von Sozialdemokraten. Aber auch die könnten sich noch wundern, wie das ganze Parlament, das Juncker nun ins wichtigste europäische Amt gedrückt hat. Juncker will nicht Sekretär des Rates sein – „aber auch nicht Befehlsempfänger der Parlaments“.

Mit dem 59-jährigen Luxemburger erobert ein ausgefuchster Europa-Dinosaurier den Chefsessel der mächtigen Brüsseler Behörde: Juncker war 19 Jahre lang Regierungschef des Großherzogtums Luxemburg, zuvor leitete er das Finanzressort. Der mit einer spitzen Zunge ausgestattete Politiker trug während seiner langen Karriere im Kreis seiner Kollegen so manchen Kampf aus. Immer wieder übte er deutliche Kritik an den großen EU-Staaten wie Deutschland und Frankreich. Aber der fließend Deutsch, Französisch und Englisch sprechende Juncker war es auch, der nicht selten in den Brüsseler Gipfelnächten zwischen zerstrittenen Kollegen vermittelte.

Doch nachdem der langjährige Eurogruppenchef 2013 ausgelaugt von den endlosen Notsitzungen der Schuldenkrise freiwillig die Führung des wichtigsten Gremiums der Währungsunion abgab, erlebte „Mr. Euro“ in seiner Heimat einen ungewollten Karriereknick: Der selbstbewusste Regierungschef stürzte über eine Geheimdienstaffäre, musste sich vorgezogenen Neuwahlen stellen – und verlor sein Amt. Juncker, der Jura studiert hat, aber sein ganzes Leben Politiker war, stand plötzlich ohne Posten da – von einem Sitz auf der kleinen Luxemburger Oppositionsbank einmal abgesehen.

Über die Sommermonate wird Juncker die neue Kommission zusammenstellen

Seine Chance auf Fortsetzung seiner Karriere sah der gewiefte Politik-Veteran, als im Vorfeld der Europawahl ein neues Verfahren ins Leben gerufen wurde. Erstmals ernannten die europäischen Parteien Spitzenkandidaten, die zugleich ihre Anwärter für den Posten des nächsten EU-Kommissionschefs sein sollten. Juncker gewann gegen Schulz. Doch mit den dann beginnenden Problemen hatte Juncker wohl nicht gerechnet. Auf einmal wurde das gesamte Verfahren der Spitzenkandidaten wieder infrage gestellt, Gerüchte über einen Rückzug des Luxemburgers machten die Runde. Sein ärgster Widersacher war bis zuletzt der britische Premier David Cameron, der Juncker die Fähigkeit absprach, die EU angesichts gewachsener Europaskepsis zu erneuern. Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zögerte lange, bis sie sich schließlich hinter ihren EVP-Kollegen stellte.

Über die Sommermonate wird Juncker nun die neue Kommission zusammenstellen. Keine einfache Aufgabe. So wollen die Hauptstädte nur drei bis vier Frauen entsenden. Schulz reagiert bereits mit einer Drohung. Falls sich daran nichts ändere, werde es für die gesamte Kommission „keine Mehrheit“ im Parlament geben. Das Signal ist deutlich: Das Demokratieexperiment ist noch nicht vorbei.