Fraktionen des EU-Parlaments stellen sich hinter den konservativen Spitzenkandidaten aus Luxemburg

Brüssel. Jean-Claude Junckers Chancen, Präsident der nächsten EU-Kommission zu werden, sind gestiegen: Das Europaparlament empfiehlt ihn als Kandidaten, die Fraktionen stellen sich hinter ihn. „Jean-Claude Juncker, der Kandidat der größten Fraktion, wird als Erster versuchen, die nötige Mehrheit zu erreichen“, heißt es in einer Erklärung der Fraktionsvorsitzenden des Hauses. Juncker – der Mann der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP) und damit der Wahlgewinner – soll den ersten Schuss haben und versuchen, eine Mehrheit der Abgeordneten des Europaparlaments von seiner Kandidatur zu überzeugen.

Die Reihen im Europaparlament schließen sich, der Wahlkampf ist vorbei, die Spitzenvertreter des Hauses machen sich nun daran, gemeinsam den Einfluss des Parlaments im Gefüge der europäischen Institutionen zu stärken. Konkret: die Staats- und Regierungschefs darauf zu verpflichten, das Wort zu halten, das die Mehrzahl von ihnen gegeben hat, und einen der europaweiten Spitzenkandidaten als Präsidenten der nächsten EU-Kommission vorzuschlagen. Das Parlament macht deutlich: Es wird die Rechte nutzen, die ihm der Vertrag von Lissabon gibt und die jetzt erstmals zum Tragen kommen, nämlich mitzuentscheiden über das wichtigste Amt in der EU.

Diesem Ziel ordnet sich nun auch Martin Schulz unter, der am Wahlabend noch angekündigt hatte, auch er selbst werde versuchen, eine Mehrheit im Haus für sich zu organisieren, auch er selbst wolle weiter Kommissionspräsident werden. Nun macht sich der Spitzenkandidat der EU-Sozialdemokraten für den Kontrahenten Juncker als ersten Anwärter auf das Amt stark. Die Empfehlung der Fraktionsvorsitzenden sei auch seine eigene als Parlamentspräsident, sagte Schulz; dahinter stünden mehr als 500 Abgeordnete. „Ich hoffe, dass die EVP Juncker als Kandidaten nominieren und der Rat das respektieren wird“, sagte er.

Die Fraktionsvorsitzenden waren sich schnell einig über ihr weiteres Vorgehen im Ringen um die Personalpolitik. Am späten Vormittag trafen sie sich, zur Mittagszeit schon war ihre Erklärung fertig: „Dem Buchstaben und dem Geist der Europäischen Verträge entsprechend und unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Europawahl“ verpflichten sie sich dem Ziel, in Verhandlungen „den nächsten Kommissionspräsidenten aus der politischen Familie zu bestimmen, die in der Lage ist, die nötige Mehrheit im Europaparlament zu erreichen“. Der Buchstabe sieht im Kern eine doppelte Mehrheit für den Spitzenposten vor: Die Regierungschefs nominieren einen Kandidaten. Das Parlament stimmt über ihn ab. „Auf dieser Basis laden wir den Europäischen Rat ein, interinstitutionelle Konsultationen zu beginnen“, heißt es in der Erklärung. Die Botschaft des Parlaments an den Vorsitzenden der Runde der Regierungschefs ist die: Verhandlungen werden nötig sein, um einen Konflikt zu vermeiden, um ein Scheitern auszuschließen und um eine politische Krise zu vermeiden.

Also Verhandlungen im Parlament einerseits, aber auch mit den Staats- und Regierungschefs andererseits. Die wollen zwei einflussreiche Abgeordnete führen: Um 14 Uhr empfing Ratspräsident Herman Van Rompuy zwei Abgesandte des Parlaments, die Fraktionschefs der beiden größten Gruppen: den französischen Christdemokraten Joseph Daul und den österreichischen Sozialdemokraten Hannes Swoboda. Am Abend wollten sich dann die Regierungschefs treffen. Van Rompuy hatte sie zu einem „informellen Abendessen“ eingeladen. Auch Daul und Swoboda sollten dabei sein. Der Tandemauftritt ist eine weitere Botschaft an den Rat: Das Parlament kommt zu zweit, spricht aber mit einer Stimme. Und noch einen Hinweis liefert die Abordnung: Schulz verzichtet auf den Auftritt im Rat, darauf, in dieser Sache für das Parlament zu sprechen. „Wenn das mich persönlich betreffen sollte, habe ich vor Monaten ein entsprechendes Verfahren festgelegt“, sagte Schulz. Daul also solle in diesem Fall mit Van Rompuy kommunizieren, als Christdemokrat – und EVP-Chef – der Parteinahme für Schulz unverdächtig, als Doyen der Fraktionschefs sprechfähig.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stärkte in Brüssel ihrem Parteikollegen Juncker den Rücken und sagte, Ratspräsident Herman Van Rompuy solle den Auftrag erhalten, die geplanten Konsultationen mit dem Parlament aufzunehmen. Diese Gespräche würden „in Zusammenarbeit“ mit Juncker geführt. Auch Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann, ein Sozialdemokrat, sprach sich deutlich für den Luxemburger Konservativen aus: „Jean-Claude Juncker ist für mich Kandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten.“ Der liberale luxemburgische Premier Xavier Bettel sagte: „Der Jean-Claude (Juncker) ist auf Platz eins, das soll man anerkennen.“

Allerdings gibt es gegen Juncker auch Vorbehalte. Ungarns rechtskonservativer Regierungschef Viktor Orban unterstrich: „Unsere Haltung ist, dass es keine automatische Verbindung zwischen dem Wahlergebnis und der Nominierung gibt.“ Orban hatte angekündigt, die Abgeordneten seiner Fidesz-Partei, die der EVP angehören, würden den Luxemburger nicht unterstützen. Skeptisch zeigte sich auch der schwedische Premierminister Fredrik Reinfeldt: „Dies ist der Beginn eines Prozesses und nicht das Ende.“

Auch der britische Premier David Cameron hat Vorbehalte gegen Juncker. Er sagte, die EU müsse den Nationalstaaten mehr Raum geben und sich auf wichtige Themen wie Wachstum konzentrieren. „Natürlich brauchen wir Leute an der Spitze dieser Organisationen, die das wirklich verstehen.“

Die Kür des Nachfolgers von José Manuel Barroso an der Spitze der Kommission ist kompliziert. Denn zunächst müssen die Staats- und Regierungschefs einen Anwärter vorschlagen. Der Kommissionspräsident wird dann vom Parlament mit absoluter Mehrheit gewählt. Dies könnte im Juli passieren.