Viele Menschen aus der Ukraine leben in Hamburg. Sie trauern um die Opfer während der Proteste in Kiew. Und sie sehen jetzt eine große Chance für das Land

Hamburg. Viele Male stand Michael Hamalij auf dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew, dem Maidan. Der Ort in der ukrainischen Hauptstadt ist Symbol geworden für die Proteste gegen die Regierung unter Ex-Präsident Viktor Janukowitsch. Hamalij hatte schöne Momente auf dem Maidan. 2012, zum Beispiel, als Hamalij sich bei der Stadtverwaltung für eine Videoleinwand während der Fußball-Europameisterschaft eingesetzt hatte.

Und Hamalij erlebte wütende und traurige Momente auf dem Maidan. Vor ein paar Wochen war er aus Hamburg wieder in das Land gereist, aus dem seine Eltern kommen, dessen Sprache er fließend spricht und in dem er heute viele Freunde und Verwandte hat. Als er dieses Mal im Zentrum Kiews stand, kämpften die Menschen bei Minusgraden für einen Wandel. Statt einer Videoleinwand bauten sie Barrikaden aus Reifen und Brettern. In den vergangenen Tagen haben die Ukrainer auf dem Maidan für ihre Ziele sogar ihr Leben riskiert. Dutzende starben durch Scharfschützen der Sicherheitskräfte.

Hamburg am vergangenen Wochenende: Hamalij läuft auf der Mönckebergstraße in Richtung Rathausmarkt. 200 Menschen zeigen in Hamburg Solidarität mit der Bewegung auf dem Maidan. Es sind viele Ukrainer hier, auch einige Deutsche. Frauen stimmen über ukrainische Volkslieder an. Vorne, an der Spitze der Demonstration, tragen sie symbolisch einen Sarg aus Pappe. Mit den Namen der Toten vom Maidan. Und aus Kiew kommen derweil Nachrichten über die Freilassung Julia Timoschenkos und die Flucht des abgesetzten Präsidenten Janukowitsch. „Es verdeutlichen sich gewaltige gesellschaftliche Umbrüche“, sagt der 47 Jahre alte Hamalij. Das Volk wolle keine Populisten oder korrupten Politiker. „Es braucht einen Versöhner, eine Lichtgestalt, die vernünftig mit der historischen Verantwortung umgehen kann. Die Ukraine braucht einen Nelson Mandela.“ Auch Oksana Maryskevych ist auf der Demonstration. In den vergangenen Wochen hat sie mit anderen in Hamburg Kundgebungen vor dem Konsulat der Ukraine organisiert. Sie stehen im Kontakt mit Freunden auf dem Maidan, sie schrieben die EU-Kommission an und diskutierten mit Parlamentariern in Deutschland.

Und die 34 Jahre alte Maryskevych sah Videos im Internet von der Niederschlagung der Proteste auf dem Maidan. „Wenn man so was sieht, wird man verrückt.“ Niemand aus ihrer Familie war auf dem Maidan. „Aber bei uns in Hamburg waren Menschen, deren Brüder oder Mütter in Kiew demonstrierten, als die Scharfschützen anrückten.“

Als sie in Hamburg auf die Straße gingen, standen an der Seite von Maryskevych auch junge Frauen wie Tamara Sliporodska und Inna Shadrina. Sie alle wollen nun vor allem, dass die Schuldigen für das Blutbad, die Elite der alten Janukowitsch-Clique, vor Gericht gestellt werden. Und sie tragen die Hoffnung in sich, dass es nach dem Rückzug Janukowitschs einen demokratischen Wandel des Landes geben wird. „Wir haben in der Ukraine eine ähnliche Situation wie der in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg“, sagt die 35 Jahre alte Sliporodska, die als Datenbankentwicklerin in Hamburg arbeitet. „Das Regime ist zwar enthauptet, aber an vielen Stellen bleiben nach wie vor die Anhänger der Diktatur.“

Und so sehen viele Ukrainer nun die viel schwierigere Aufgabe auf ihr Heimatland zukommen: die Reformen der Justiz, die Demokratisierung der Medien, die Durchsetzung echter parlamentarischer Kontrolle. „Die Ukraine braucht eine Selbstreinigung“, sagt Maryskevych. Ein Auflösen der Herrschaft von einzelnen superreichen Oligarchen, ein Ende verkrusteter Machtstrukturen, die vor allem auf Gefälligkeiten und Freundschaftsdienste einer korrupten Elite beruhten.

Ein Neuanfang also. Aber mit wem an der Spitze? Darüber herrscht bei Hamalij, aber auch Maryskevych Ungewissheit. Unter dem Druck des Systems von Janukowitsch hatte es die Opposition schwer, neue politische Führungskräfte aufzubauen. Klar ist vielen vor allem, von wem das Land nicht regiert werden soll. „Timoschenko ist für viele eine Vertreterin der alten politischen Kaste“, sagt Hamalij. Auch Timoschenko war eine erfolgreiche Oligarchin, auch sie hortete ihren Reichtum. Zwei Jahre lang saß sie in Haft unter Janukowitsch. „Ich unterstütze ihre Befreiung aus dem Gefängnis, aber nicht ihre Rückkehr in die Politik“, sagt die 33 Jahre alte Shadrina. Julia Timoschenko wisse zwar, was das Volk wolle, und sie könne mit emotionalen Reden die Menschen in Kiew bewegen, aber sie sei eine Populistin„Das ist gefährlich“, sagt Maryskevych.

Der Boxprofi Vitali Klitschko hat nun angekündigt, dass er Präsident werden wolle. Die Menschen in der Ukraine rechnen ihm hoch an, dass er bei Demonstrationen auf dem Maidan in den ersten Reihen protestierte – auch als es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Zudem werde Klitschko vom Westen hoch angesehen, sagt Sliporodska. „Er spielt eine große Rolle für die europäische Integration der Ukraine.“ Und doch wuchs im Laufe der Verhandlungen mit der alten Regierung die Skepsis gegenüber Klitschko als Anführer der Opposition. Er sei zu unerfahren, zu zögerlich, sagen sie. Inna Shadrina geht noch weiter: „Die Berichterstattung über die Ukraine in Deutschland ist zu stark auf die Persönlichkeit von Klitschko fokussiert. Weder er noch andere Oppositionspolitiker waren die Anführer der Proteste. Das war das Volk selbst.“

„Es gibt keinen Helden, der uns erlösen wird“, sagt Maryskevych nüchtern. Also sind es die Bürger, die nun auf parlamentarische Kontrolle und Rechtsstaat drängen müssen. Und dafür fordern Menschen wie Hamalij, Shadrina, Maryskevych und Sliporodska auch die Hilfe der EU und Deutschland. Nach den Politikern der alten Regierung und nach Janukowitsch sollte jetzt europaweit gefahndet werden. „Ihre Konten auch im Ausland sollten gesperrt werden, sie sollten Reiseverbot nach Europa und Amerika bekommen“, fordert Shadrina. Auf die Hilfe von Europa setzen sie viel – gerade als Gegengewicht zum Einfluss Russlands während eines Neuanfangs der Ukraine. Michael Hamalij, der oft auf dem Maidan stand, weiß, wie viel Kraft das europäische Lebensgefühl bei den Menschen in der Ukraine auslösen kann. „Als während der Fußball-EM in Kiew viele Tausend Schweden, Spanier und Deutsche feierten, da hat dieses Land gezeigt, was es friedlich alles bewegen kann, um Teil Europas zu sein.“