Die Lage in der Ukraine droht sonst außer Kontrolle zu geraten

Mit Viktor Janukowitsch wurde in der Ukraine ein korrupter Diktator gestürzt. Die Menschen auf dem Maidan haben das Tor in Richtung Europa wieder aufgestoßen. Sie hoffen auf ein besseres Leben in Demokratie und auf wachsenden Wohlstand. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg – und auf ihm lauern jede Menge Gefahren.

Da ist zum einen das Personal, das den erhofften Wandel in die Tat umsetzen soll. Boxweltmeister Vitali Klitschko ist zwar der Hoffnungsträger der Pro-Europäer und des Westens. Er ist vermutlich der einzige Oppositionsführer, der sich in den vergangenen 22 Jahren nicht die Finger mit Korruption und Vetternwirtschaft schmutzig gemacht hat. Doch seine Partei Udar ist schwach, und viele seiner Landsleute halten ihn für zu nachgiebig und zu unerfahren.

Das sieht bei Julia Timoschenko anders aus. Allerdings gilt sie wiederum vielen Ukrainern als Figur der Vergangenheit, eben jener Oligarchenzeit, die das Land letztlich an den Rand des wirtschaftlichen Bankrotts und der Unregierbarkeit gebracht hat. Als Statthalter könnte sie jedoch noch ihre Parteifunktionäre Arsenij Jazenjuk oder Alexander Turtschinow ins Rennen schicken.

Als wichtigster Finanzier der Opposition gilt der „Schokoladenbaron“ Petro Poroschenko, zum Milliardär geworden mit einem Lebensmittelkonzern. Er war unter Janukowitsch auch schon einmal Wirtschaftsminister. Und schließlich gibt es noch die Nationalisten um Oleg Tjagnibok, der für seine antisemitischen und rechtsradikalen Äußerungen berüchtigt ist. Das ist keine homogene Bewegung, der ohne Weiteres eine rasche Stabilisierung der Lage zugetraut werden kann. Zumal eine der ersten Maßnahmen der neuen Machthaber in Kiew darin bestand, das Gesetz aufzuheben, das der russischen Minderheit im Osten und Süden des Landes den Gebrauch ihrer Muttersprache auf Ämtern und in Medien erlaubte.

Womit bereits die nächsten kritischen Punkte erreicht wären: das Verhältnis der verschiedenen Volksgruppen untereinander – und das der Ukraine zu Russland. Nicht das gesamte Land ist begeistert von den Ereignissen in Kiew. In der Bergarbeitermetropole Charkiw im Osten verteidigen aufgebrachte Demonstranten symbolhaft eine Leninstatue gegen angereiste Abrisswillige aus der Hauptstadt. Auf der Krim werden ukrainische Flaggen eingeholt und gegen russische ersetzt. 60 Prozent der Bewohner sind ethnische Russen. Die Halbinsel gehörte bis zu Chruschtschows Zeiten, der sie in seiner Machtvollkommenheit als Sowjet-Zar 1954 seiner Heimat zuschlug, zu Russland. Seitdem ist sie ein steter Zankapfel zwischen Moskau und Kiew.

Russische Fallschirmjägereinheiten wurden in den vergangenen Tagen bereits in Grenznähe zur Krim verlegt. Die Duma in Moskau diskutiert, ob russischstämmigen Ukrainern die russische Staatsbürgerschaft angeboten werden soll. Eine Methode, die Moskau auch bei den Konflikten um die abtrünnigen georgischen Provinzen Abchasien und Südossetien angewendet hat. Der olympische Frieden von Sotschi ist vorbei. Und Putin kann und will es sich nicht leisten, vor dem eigenen Volk Schwäche zu zeigen.

Trotzdem sollte ihm nicht unterstellt werden, den Konflikt schüren zu wollen. Moskau muss an stabilen Verhältnissen in der Ukraine genauso gelegen sein wie dem Westen. Allerdings gibt es bisher recht unterschiedliche Vorstellungen, wie diese aussehen sollen und in welchem zwischenstaatlichen Rahmen sie zu erreichen sind. Darüber müssen alle Beteiligte miteinander sprechen – und zwar schnell. Denn was in den vergangenen zwei Jahrzehnten vernachlässigt wurde – die Ukraine zu einer prosperierenden Drehscheibe zwischen Ost und West zu machen –, muss jetzt unter dem Druck der Ereignisse geschehen. Sonst droht die Lage weiter zu eskalieren, gehen Nationalisten aufeinander los, versinkt das Land im Chaos, und Moskau könnte sich gezwungen sehen, für die Sicherheit von Russen jenseits der Landesgrenze garantieren zu müssen.