Kaum aus der Haft entlassen, mischt Julia Timoschenko sich in den ukrainischen Wahlkampf ein

Berlin. Das Gesicht aufgedunsen, mit Ringen unter den Augen und tränenerstickter Stimme: Julia Timoschenko sammelte alle Kräfte ihres erschöpften Körpers zusammen, um gleich nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan, aufzutreten. „Ihr, meine Familie, wie sehr habe ich davon geträumt, in eure Augen zu sehen“, sagte sie pathetisch. Wie beiläufig skizzierte sie auch gleich ihr Programm für die Präsidentenwahl, zu der sie antreten will: gnadenlose Verfolgung der alten Staatsführung. „Die für den Tod so vieler junger Menschen verantwortlich sind, müssen auf das Schärfste bestraft werden, wir dürfen ihnen nicht vergeben, sonst bringen wir Schande über unser Land“, rief sie.

Die 53-Jährige will zum zweiten Mal nach dem höchsten Amt im Staat greifen. Vor vier Jahren unterlag sie dem nun aus der Präsidentenresidenz getriebenen Viktor Janukowitsch in der Stichwahl mit 45,5 Prozent zu 49,0 Prozent. Die Wahl war von internationalen Beobachtern als demokratischste Wahl in der Ukraine seit Mitte der 90er-Jahre eingeschätzt worden. Im Jahr darauf ließ Janukowitsch Timoschenko in einem politisch motivierten Prozess zu sieben Jahren Haft wegen Amtsmissbrauchs verurteilen. Trotz ihres Rückenleidens verweigerte er ihr die Ausreise in die Berliner Charité, von deren Ärzten Timoschenko behandelt wird. Julia Wolodymyrowna, so ihr Mädchenname, stilisierte sich bei ihrem Auftritt sogleich zur Seele des Maidans. Tatsächlich hängt ihr Porträt groß an der Metallkonstruktion, die im Dezember für den Aufbau des zentralen Kiewer Christbaums gedacht war. Sprechchöre „Freiheit für Julia“ gab es aber nur ganz am Anfang, Ende November.

Später vergaßen die Menschen die ehemalige Ministerpräsidentin. Das lag zum einen daran, dass sie zunehmend allen Politikern misstrauten, auch denen der Opposition. Zum anderen verspielte Julia Timoschenko nach der Orangen Revolution 2004 ihr Image als Volkstribunin. „Ich bin froh, dass sie frei ist, denn sie wurde unrechtmäßig verurteilt, aber der Maidan darf kein Timoschenko-Volksfest werden“, sagte eine Frau. Weit größere Zustimmung fand der Auftritt des Ex-Innenministers Juri Luzenko, der schlicht der Reihe nach allen Maidan-Unterstützern dankte. Die im zentralukrainischen Dnepropetrowsk geborene Timoschenko wuchs in einfachen Verhältnissen auf. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnte sie ihrem geschäftlichen Spürsinn folgen. Über einen Videoverleih und einen Handel für Benzin arbeitete sie sich gemeinsam mit ihrem Mann Alexander hoch. Die daraus entstandene Firma JeESU machte Mitte der 90er-Jahre Milliardenumsätze, sie importierte Gas und Öl aus Russland.

Die Aufträge verschaffte ihr Pawlo Lazarenko, zunächst Vize-, dann Ministerpräsident, der später in den USA wegen Geldwäsche zu 97 Monaten Haft verurteilt wurde. Nach Angaben der Zeitung „Delo“ zweigten Lazarenko und Timoschenko allein 1996 und 1997 rund 690 Millionen US-Dollar aus dem Gashandel als Schwarzgeld auf private Konten ab. Über ihr heutiges Vermögen kann nur spekuliert werden, Timoschenko spielt es gerne herunter. „Ich kann bestätigen, dass ich nur ein kleines Haus miete“, sagte sie 2007 über ihre Lebensverhältnisse. Drei Jahre später erklärte sie, wegen ihrer Ersparnisse führe sie ein „kein ärmliches Leben“.

Nachdem sie 1996 Parlamentsabgeordnete wurde, habe sie ihre Geschäfte aufgegeben, behauptete Timoschenko. 1999 trat sie zum ersten Mal als Energieministerin auf die große politische Bühne. Sie gehörte der Regierung des späteren Präsidenten Viktor Juschtschenko an, die nach der sogenannten Rubelkrise in Russland, von der auch die Ukraine stark betroffen war, wichtige marktwirtschaftliche Reformen verwirklichte. Die Schattenwirtschaft wurde eingedämmt, die Steuereinnahmen stiegen. Nach Darstellung von Timoschenko und Juschtschenko hätten Oligarchenclans aus Donezk, die um ihre Einkünfte fürchteten, den damaligen Präsidenten Leonid Kutschma zum Sturz der Regierung gedrängt.

Obwohl Timoschenko, wie die meisten Menschen ihrer Heimatstadt Dnepropetrowsk, russischsprachig ist, gab sie sich von Anfang ihrer politischen Karriere an als ukrainische Patriotin. Daran änderten auch ihre stets guten Kontakte nach Russland nichts, die sie sich durch den Rohstoffhandel erwarb. Ihre Vaterlands-Partei Batkiwschtschyna hat einen Beobachterstatus bei der Europäischen Volkspartei. So fand Timoschenko ihre Stammwähler im Westen des Landes, die ihr den bis heute deutlichen russischen Akzent im Ukrainischen verzeihen. Wie ihre Klientel trat Timoschenko stets für eine Anbindung ihres Landes an die Europäische Union ein.

Zur Volksheldin wurde Timoschenko während der Orangefarbenen Revolution 2004. Beim damaligen „Maidan“ riss sie die Menschen mit wie kein zweiter Redner. Juschtschenko bedankte sich, indem er Timoschenko zur Ministerpräsidentin ernannte. Die zahlte es sofort ihren verfeindeten Oligarchen heim: Sie machte die gerade erfolgte Privatisierung des Stahlwerks in Kryworischstal rückgängig.

ArcelorMittal zahlte schließlich den sechsfachen Preis für das Unternehmen. Gleichzeitig betrieb Timoschenko eine populistische Politik: Sie erhöhte die Renten und Stipendien deutlich, während sie gleichzeitig Preise für Lebensmittel festschrieb. Schon im September entließ sie der Präsident – aus Timoschenkos Kreisen waren Korruptionsvorwürfe gegen den damaligen Juschtschenko-Gönner und Schokoladenfabrikanten Petro Poroschenko laut geworden. Damit war der Krieg im „Orangefarbenen Lager“ voll entbrannt, die Revolutionäre zerfleischten sich gegenseitig. 2007 kehrte Timoschenko nach vorgezogenen Parlamentswahlen auf den Posten der Ministerpräsidentin zurück – schon als Gegenspielerin Juschtschenkos.

Die Enttäuschung über das Scheitern des „Orangefarbenen Lagers“, die Timoschenko schon die Wahlniederlage 2010 einbrachte, hängt ihr bis heute nach. Außerdem werfen die Menschen ihr vor, dass sie immer wieder zwielichtige Geschäftsleute in ihre Partei aufnahm und wenig für eine Demokratisierung tat. So trat sie lange Zeit dafür ein, die Parteilisten bei Parlamentswahlen geheim zu halten – die Menschen wussten so gar nicht, für welche Politiker sie stimmen. In den vergangenen Wochen sprach sie sich dagegen aus, zur 2004 beschlossenen Verfassung zurückzukehren, die die Macht vom Präsidenten auf das Parlament verteilt. „Sie will ein Präsident wie Janukowitsch werden, nur hübscher und mit Zopf“, kommentierte ein Demonstrant auf dem Maidan.

Ihr Hauptkonkurrent um das Präsidentenamt wird Vitali Klitschko sein. „Er hat sich als Führungsperson bewiesen“, urteilt der Politologe Wolodymyr Fesenko. So kam Klitschko als einziger Oppositionspolitiker nach dem umstrittenen Abkommen mit Janukowitsch vom Freitag zweimal auf den Maidan, um seine Unterschrift zu rechtfertigen. Sein wichtigster Vorteil gegenüber Timoschenko ist sein Image als Saubermann: „Er hat sein Geld ehrlich verdient“, sagen viele über ihn, er gehöre nicht zur alten Machtclique. Außerdem kann Klitschko auch im Osten des Landes auf Stimmenfang gehen – die Menschen dort schätzen ihn noch aus seiner Zeit als Boxer. Klitschko dürfte deshalb gegenüber Timoschenko die besseren Karten haben.