Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ist in Bedrängnis. Liberale Bürger und konservative Prediger wollen den Chef der Regierungspartei loswerden.

Sang- und klanglos starb im November des Jahres 1922 eines der dauerhaftesten und zeitweise glanzvollsten Imperien der Weltgeschichte: das Osmanische Reich. Mehr als sechs Jahrhunderte lang hatten die osmanischen Türken ein riesiges Gebiet verwaltet, das auf dem Höhepunkt seiner Macht im 16. Jahrhundert, in der Ära Süleymans des Prächtigen, mehr als fünf Millionen Quadratkilometer in Europa, Kleinasien, im Nahen Osten und Nordafrika umfasste – ein Gebiet größer als die Europäische Union mit ihren 28 Mitgliedstaaten. Seit 1922 gibt es keinen Sultan mehr.

Und doch fällt der Begriff in letzter Zeit sehr häufig. Er fällt im Zusammenhang mit dem Regierungschef der Türkei, Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der ganz (selbst)bewusst und unverblümt an die einstige Macht und Größe des verblichenen Osmanischen Reiches anknüpft. Der moderne „Sultan“ Erdogan will den türkischen Einfluss wieder auf jene Regionen ausdehnen, die einst unter Verwaltung der „Hohen Pforte“ gestanden haben. Jüngste öffentliche Auftritte von Erdogan waren hinterlegt von zwei riesigen Bildwänden – der Ministerpräsident gleich überlebensgroß neben Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der modernen Türkei. Erdogan versucht, sich auf zwei völlig gegensätzliche Traditionslinien zu berufen – das Osmanische Sultanat und Kalifat sowie die unangefochtene Führungsstärke des charismatischen Kemal Atatürk. Es ist trotz des Bindegliedes Nationalismus die unmögliche Quadratur des Kreises. Denn Atatürk, der im Gegensatz zum Islamisten Erdogan von Koran und Islam wenig hielt, hatte gezielt einen laizistischen Staat mit der Trennung von Politik und Religion geschaffen. Atatürks berühmt-berüchtigtes Urteil, der Islam sei die „absurde Theologie eines unmoralischen Beduinen, eine verwesende Leiche, die unser Leben vergiftet“, würde ihm unter Erdogan vermutlich juristische Probleme eintragen.

Das zeitweise übermächtige Militär drohte zuletzt 2007 mit einem Putsch

Recep Tayyip Erdogan, Vorsitzender und Mitgründer der „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP), war 2003 als Gegenentwurf zum „Tiefen Staat“ und der wuchernden Korruption im Lande an die Macht gewählt worden. Unter dem Begriff „Tiefer Staat“ wird eine konspirative Zusammenarbeit von Militär, Politik, Justiz, Verwaltung, Geheimdiensten und sogar organisiertem Verbrechen verstanden. Dieser Moloch hat das Ziel, Bedrohungen für den türkischen Nationalismus und das kemalistische Staatsmodell abzuwehren – wobei es immer wieder zu schweren Menschenrechtsverletzungen kam. Das zeitweise übermächtige türkische Militär sah und sieht sich als Hüter der kemalistischen und republikanischen Ordnung, putschte dreimal gegen unliebsame Regierungen und drohte zuletzt 2007 mit einem Staatsstreich.

Erdogan, dessen AKP die absolute Mehrheit im Parlament besitzt, ging gezielt gegen die Armee vor, die seinen Plänen für eine stärkere Islamisierung der Gesellschaft im Weg stand. Zu seiner Kampagne gegen das Militär gehörten auch die Ergenekon-Prozesse. Ergenekon soll als Teil des „Tiefen Staates“ ein Netzwerk gewesen sein, das einen Staatsstreich gegen Erdogan geplant haben soll. Mehr als 300 Menschen wurden in Haft genommen, auch mehr als 100 Offiziere, darunter mehrere pensionierte Generäle. Im August 2013 wurden 19 Angeklagte, darunter der früher so mächtige türkische Generalstabschef Ilker Basbug, zu lebenslanger Haft verurteilt. Journalisten, die kritisch über das juristisch undurchsichtige Verfahren berichteten, wurden mit Prozessen überzogen.

Immer mehr nimmt Erdogan das selbstherrliche Verhalten eines osmanischen Sultans an. Er umgibt sich zunehmend mit Jasagern anstatt mit kompetenten Experten und regiert aggressiv auf jede Kritik. Zudem hat seine Regierung in den letzten Jahren druckvoll versucht, das öffentliche Leben in der Türkei stärker islamischen Regeln zu unterwerfen. Erdogan weichte im vergangenen Jahr das kemalistische Kopftuchverbot für Frauen im öffentlichen Dienst auf, schränkte den Alkoholgenuss ein und legte ein Gesetz zur staatlichen Internet-Kontrolle auf. Vor allem junge Türken haben das Gefühl, Erdogan und die AKP steuern das Land in einen Gottesstaat. Man muss dazu wissen, dass Erdogan früher als glühender Islamist agitiert hatte und im April 1998 vom Staatssicherheitsgericht in Diyarbarkir zu zehn Monaten Gefängnis und lebenslangem Politikverbot verurteilt worden war. Er hatte auf einer Konferenz gesagt: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“

Die Proteste richten sich gegen die schleichende Islamisierung der Türkei

Die Massenproteste des vergangenen Jahres, die sich an der geplanten Abholzung des kleinen Gezi-Parkes in Istanbul für ein protziges Bauprojekt Erdogans entzündet hatten, richteten sich gegen die schleichende Islamisierung, den autoritären Regierungsstil, die Einschränkung der Pressefreiheit und die Polizeibrutalität. Wirtschaftlich geht es der Türkei gut; ein Armutsaufstand wie in großen Teilen des Arabischen Frühlings ist dies nicht. Doch von den mehr als 5000 festgenommenen Protestierern gehörten mehr als 80 Prozent der Minderheit der Aleviten an. Diese religiös den Schiiten verwandte Bevölkerungsgruppe, die rund 15 Prozent der 75 Millionen Türken ausmacht, sorgt sich besonders um die religiöse Toleranz. Ihr Glaube ist stark vom Humanismus beeinflusst, sie lehnen religiösen Dogmatismus ab.

Der gesellschaftliche Druck auf Erdogan wird jüngst überschattet von einem Machtkampf, der durch Korruptionsermittlungen von Polizei und Justiz gegen führende Mitglieder von Regierung und AKP ausgelöst wurde. Schließlich war Erdogan als Kämpfer gegen die Korruption gewählt worden, und die AKP, die sich als „Partei der Makellosen“ gerierte, hatte daher jede Berichterstattung über Korruption nach Kräften unterdrückt. Nun spricht der Regierungschef angesichts der Ermittlungen und der Presseberichte wütend von einer „Verschwörung“ gegen ihn und reagierte mit der Entlassung von inzwischen zehn Kabinettsmitgliedern und mehr als 600 Polizisten landesweit, darunter mindestens 16 ehemals mächtige Polizeichefs. Er zog zudem Staatsanwälte von einschlägigen Verfahren ab und versuchte in einem äußerst durchsichtigen Manöver ein Gesetz durchzupeitschen, das Ermittler gezwungen hätte, die Politik über ihre Arbeit vorab zu informieren. Und es wird immer deutlicher, dass es in der Türkei offenbar noch eine weitere Form des „Tiefen Staates“ gibt – einen Gegenpol zum kemalistischen Netzwerk.

Als Drahtzieher und Machtrivale Erdogans wird der im US-Exil lebende türkische Prediger Fethullah Gülen identifiziert. Der 72-jährige Gülen gilt dem US-Magazin „Time“ als eine der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Erde. Seine islamische Bewegung soll weltweit rund acht Millionen Anhänger haben und 1000 Schulen in mehr als 100 Staaten betreiben. Gülen will eine Verschränkung von Nationalismus und Islamisierung. 1999 wurde im Fernsehsender ATV eine Rede Gülens ausgestrahlt, in der er seine Anhänger aufforderte, zunächst Polizei und Justiz der Türkei zu unterwandern und dann den ganzen Staat. Der frühere Vizedirektor des Polizei-Nachrichtendienstes, Hanefi Avci, schrieb in seiner Autobiografie, die Gülen-Bewegung habe die türkische Polizei im Griff; einige Abteilungen seien bereits „staatlicher Kontrolle entzogen“. Das Ausmaß, in dem Religiöse die Führung übernommen hätten, sei „erschreckend“. Avci wurde nach Erscheinen des Buchs festgenommen. Fethullah Gülen gibt sich nach außen liberal, wird aber nicht nur vom renommierten US-Magazin „Foreign Policy“ als „ultrakonservativ“ eingestuft. Es sieht so aus, als bilde die Gülen-Bewegung einen neuen, religiös betriebenen „Tiefen Staat“. Auch in Deutschland ist Gülen in fast jeder größeren Stadt aktiv.

Die Situation in der Türkei ist also von einer komplizierten Gemengelage geprägt, in der der „Sultan“ Erdogan seine Macht nicht nur gegen Millionen Kritiker seiner zunehmend islamistischen und autoritären Politik verteidigen muss, sondern auch noch gegen ein rivalisierendes islamisch-religiöses Netzwerk, das Erdogan einen „Parallelstaat“ nennt, den er „liquidieren“ werde. Zudem droht die innenpolitische Krise das bislang ungestüme türkische Wirtschaftswachstum abzuwürgen. Diese bedrohliche Konstellation hat Erdogan zu einem Verzweiflungsschritt getrieben: In einer 180-Grad-Wende geht der Premier nun auf die Militärs zu und bezeichnet die Urteile gegen Offiziere im Zuge von Hunderten Putschprozessen als Teil einer „Verschwörung“ – so, als habe der von ihm geführte Staat nichts damit zu tun gehabt. Erdogan hat gar vorgeschlagen, die damaligen Urteile der Sondergerichte zu annullieren – wogegen sich aber Widerstand in der AKP regt. Die Bruchlinien im Staatswesen der Türkei könnten also künftig zwischen Erdogan und dem Militär auf der einen sowie der Gülen-Bewegung auf der anderen Seite verlaufen. Für die weitere gesellschaftliche und politische Entwicklung der Türkei verheißt dies wenig Gutes.