Der türkische Premier baut wegen der Korruptionsaffäre sein Kabinett um. Hinter den Kulissen tobt ein erbitterter Machtkampf

Istanbul. Es war einer jener Tage in der Türkei, an dem jede der Nachrichten, die einander jagten, eine Sensationsschlagzeile wert war. Die Zeitungen hatten die Qual der Wahl: Drei Minister von Regierungschef Recep Tayyip Erdogan waren unter Korruptionsvorwürfen zurückgetreten, und einer von ihnen wollte Erdogan selbst mit in den Abgrund reißen. Städtebauminister Erdogan Bayraktar, der für Baugenehmigungen und Bebauungsplanänderungen Bestechungsgelder genommen haben soll, sagte, Erdogan habe bei allen Projekten, die die Staatsanwälte nun als kriminell einstufen, alles gewusst und teilweise die Entscheidungen gefällt.

Dann kam Stunden später die Nachricht, dass Erdogan mit einer Kabinettsumbildung und zehn neuen Ministern die seit acht Tagen tobende Korruptionskrise, die ihn selbst zu stürzen droht, in den Griff zu bekommen versuchte. Es kommt einer Sensation gleich: EU-Minister Egemen Bagis, ebenfalls der Bestechlichkeit verdächtigt, verlor sein Amt, obwohl er nicht zurückgetreten war – wozu ihn Staatspräsident Abdullah Gül, ebenso aufsehenerregend, öffentlich gedrängt hatte. Das bedeutete wohl, dass der hinter den Kulissen mit Erdogan um die Macht ringende Staatschef gewillt war, seinen Teil dazu beizutragen, um Erdogan und seinen Leuten das Leben möglichst schwer zu machen.

Und dann wurde bekannt, dass die Staatsanwälte nach den 52 Festnahmen und 24 Inhaftierungen der letzten Woche eine weitere Verhaftungswelle angestoßen hätten, gegen 30 Personen, wobei diesmal auch Erdogans Sohn Bilal unter den Verdächtigen sein solle. Und dass die Polizei sich eigenmächtig geweigert habe, diese Leute zu verhaften. Zuvor hatte Erdogan deren Führung säubern lassen und 500 Polizeioffiziere durch politisch verlässliche Leute ersetzt.

Sein neuer Innenminister, der aufgrund einer vor wenigen Tagen erfolgten nächtlichen Regeländerung rechtlich von den Haftbefehlen informiert werden musste, soll die Sache mittlerweile auch blockieren. Der neue Justizminister Bekir Bozdag dürfte derweil den ermittelnden Staatsanwälten die Hände zu binden versuchen. „Erdbeben“ titelte die oppositionelle Zeitung „Cumhuriyet“. Es war der beste Versuch dieses Tages, die Sensationsflut in eine Schlagzeile zu quetschen.

Die Abwehr der Korruptionsermittlungen zu koordinieren – das mag der Grund sein, warum Erdogan sein neues Krisenkabinett um ein Uhr morgens zu einer dringenden Sitzung einberief. Und dann war auch noch für Donnerstag früh eine Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats anberaumt. Thema: das Wanken von Erdogans Macht.

Wie sehr sie wankt, war auch daran abzulesen, dass ein früherer AKP-Innenminister und AKP-Mitbegründer, Idris Naim Sahin, aus der Regierungspartei austrat, und zwar aus Protest gegen die seiner Meinung nach weit verbreitete Bestechlichkeit in hohen Parteikreisen ebenso wie wegen der Haltung des türkischen Premiers in der Korruptionskrise.

Krisenkabinett? „Kriegskabinett“ nannte es der Journalist Serkan Demirtas. Der neue EU-Minister Mevlüt Cavusoglu gilt als geifernder EU-Feind, der neue Innenminister Efkan Ala war zuvor ein unauffälliger Unterstaatssekretär im Ministerpräsidentenamt und wird allgemein als einer von Erdogans gehorsamsten Loyalisten eingestuft.

Kein Zweifel: Dieses Kabinett soll den Krieg koordinieren, gegen all jene Kräfte, denen die Regierungsblätter am Donnerstag einhellig den Versuch eines Staatsstreichs vorwarfen: Schuldig seien die USA (mitschwingend im Vorwurf: die EU) sowie Israel, deren Handlanger seien die einflussreichen türkischen Netzwerke des in den USA lebenden Predigers Fetullah Gülen. Erdogan hatte Tage zuvor versprochen, er werde all diesen „dunklen Mächten“ die „Hände brechen“. Erdogan und Gülen waren einst Verbündete, doch damit ist es vorbei. Gülen verdächtigt Erdogan, seine Bewegung zerschlagen zu wollen. Erdogan verdächtigt Gülen, ihn aus dem Amt drängen zu wollen. Gülen wird großer Einfluss bei der Polizei nachgesagt – ein Grund für die Säuberungen im Sicherheitsapparat.

Das eigentliche Problem, die Kultur der Bestechlichkeit, ist einerseits nicht nur eines der AKP. Korruption ist seit jeher Kernbestandteil der politischen Kultur des EU-Beitrittskandidaten Türkei. Aber die AKP war einerseits mit dem Anspruch angetreten, damit aufzuräumen. Andererseits scheinen der sensationelle Wirtschaftsboom der vergangenen Jahre und die ständig wachsende Zahl gigantomanischer Großprojekte Erdogans auch zu mehr Korruption als früher geführt zu haben.

Dunkle Geschäfte sind andererseits von Anfang an die „Ursünde“ des politischen Islam in der Türkei gewesen. Sogenannte islamische Holdings aus dem Umfeld der Vorgängerpartei der AKP wurden in Deutschland, Österreich und anderen europäischen Ländern reihenweise wegen Betrugs verurteilt. Vorsätzlich schröpften sie fromme Türken, indem sie „halal“, also gottgefällige „Investitionen“ anboten. Das Geld wurde in den europäischen Moscheen der Organisation Milli Görüs eingesammelt, der Erdogan und seine Weggefährten entstammen. Fast jeder, der sein Geld dorthin trug, verlor alles. In vielen Fällen waren es Lebensersparnisse, eine Selbstmordwelle war am Ende die Folge. In der Türkei sind die deutschen Urteile nie anerkannt, die Opfer nie entschädigt worden. Dabei haben die betroffenen Formen wie Yimpas Holding nach wie vor viel Geld und politischen Einfluss, und einige ihrer Manager stiegen in hohe Funktionen in Regierung und AKP auf.

Es ist diese Kultur der Geschäftemacherei, die der AKP nun womöglich zum Verhängnis wird. In Istanbul und anderen Städten kam es erneut zu Demonstrationen. Auf Transparenten forderten Demonstranten den Rücktritt der Regierung. „Lügner“ und „Dieb“ stand auf Plakaten, die Erdogan zeigten.