Erster öffentlicher Auftritt des begnadigten russischen Ex-Unternehmers. Er fordert Politiker auf, sich für Freilassung weiterer Gefangener einzusetzen

Berlin. Nur einmal gab es im Berliner Mauermuseum Buhrufe. Ganz zu Beginn der Pressekonferenz, als Alexandra Hildebrandt, Leiterin der Gedenkstätte am Checkpoint Charlie, ausdrücklich auch dem russischen Präsidenten Wladimir Putin dafür dankte, dass er Michail Chodorkowski endlich freigelassen habe. Und als wäre das nicht schon genug, verteidigte sie die von lautstarkem Protest begleitete Erwähnung des Namens auch noch: Putin habe Chodorkowski ins Gefängnis gesteckt, und er habe ihn ja schließlich auch wieder rausgelassen. Doch das war auch der einzige verstörende Moment.

Als Chodorkowski am Sonntagmittag vor die Presse trat, wirkte er ruhig und besonnen. Sehr jugendlich für sein Alter von 50 Jahren, als hätten die zehn Jahre in einem russischen Straflager keine Spuren hinterlassen. Manchmal lächelte er charmant, fast schüchtern. Kaum vorstellbar, dass er vor 36 Stunden noch Gefangener in Sträflingskleidung war. Er erschien im perfekt geschnittenen Anzug, dunkelblau mit weißem Hemd und blauer Krawatte.

Sein Weg glich einem Triumphmarsch, er wurde von Applaus und Bravo-Rufen begleitet. Sicherheitskräfte mussten den Weg durch die Menge bahnen: erst für Chodorkowskis Eltern, die in der ersten Reihe Platz nahmen. Und dann für Chodorkowski, der versuchte, die Menge zu beruhigen, er würde noch ein bisschen bleiben.

Als er zu reden begann, wurde es ruhig in dem überfüllten Saal. Nur das permanente Klicken der vielen Kameras bildete ein sanftes Hintergrundrauschen, das anschwoll, sobald er mit den Händen gestikulierte und die Fotografen ganze Bilderserien machten. „Ich habe erst vor 36 Stunden meine Freiheit wiedererlangt, und irgendwelche Pläne für die Zukunft konnte ich nicht machen“, sagte Chodorkowski. Er müsse erst einmal darüber nachdenken und sich mit seinen Freunden beraten, wie es nun weitergehen solle. Auch darüber, wie lange er in Berlin bleiben wird. Er hat ein Jahresvisum für Deutschland. Eines aber stellte er klar: „Ich werde nicht Politik betreiben. Der Kampf um die Macht ist nicht mein Ding.“

Chodorkowski bedankte sich bei dem ehemaligen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) für ihre Hilfe bei seiner Freilassung. Ohne den Einsatz Merkels und die „Anstrengungen Genschers“ wäre er nicht in Freiheit. Den Namen Putin erwähnte er dabei nicht. Empfehlungen für den zukünftigen Umgang mit Putin wollte Chodorkowski nicht geben. „Es wäre vermessen, erfahrenen westlichen Politikern Ratschläge zu erteilen, wie sie sich einem so schwierigen Menschen meines Landes gegenüber verhalten sollen. Das werde ich nicht tun.“

Deutschland und andere westliche Demokratien forderte er auf, das Schicksal von anderen politischen Häftlingen nicht zu vergessen. „Ich hoffe sehr, dass die Politiker, wenn sie sich mit Wladimir Putin austauschen, daran denken, dass ich nicht der letzte politische Gefangene in Russland war.“ Gleichzeitig empfahl er dem ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch, dem Beispiel Putins zu folgen, und die ukrainische Oppositionsführerin Julia Timoschenko aus der Lagerhaft zu entlassen.

Als Chef des größten russischen Ölkonzerns Yukos war Chodorkowski einst zum reichsten Mann Russlands geworden. Als er jedoch begann, die russische Opposition zu unterstützen, und Putin öffentlich kritisierte, fiel er in Ungnade und saß seit 2003 ununterbrochen in Haft. Erst vergangenen Freitag hatte Putin den berühmtesten politischen Gefangenen Russlands begnadigt. Noch am selben Tag flog Chodorkowski in der Privatmaschine eines deutschen Unternehmers nach Berlin. Er sei vom Gefängnis abgeholt worden und habe erst auf der Fahrt zum Flughafen erfahren, dass das Ziel Berlin sei.

Zehn Jahre lebte Chodorkowski abgeschnitten von der Welt, und nun konnte er in Berlin eine begeisterte Menge erleben. „Wir bewundern Sie“, sagte ein Journalist auf Russisch zu Chodorkowski und fragte: „Wofür hat man Sie eigentlich eingesperrt?“ Chodorkowski antwortete, er habe keine echte Antwort. Er kenne nicht alle Fakten. Seine Freilassung sei aber kein Symbol für grundlegende Veränderung im Land. Trotz seines Gnadengesuchs an Putin betrachtet sich Chodorkowski weiterhin als unschuldig. „Die Macht wollte immer von mir ein Schuldbekenntnis, doch das war unannehmbar für mich.“ Das Gesuch habe er ohne Schuldeingeständnis unterzeichnet.

In manchen Momenten schien es aber, als falle es ihm doch schwer, seine Emotionen zu kontrollieren. Dann legte er eine kurze Pause ein und blickte nach unten. Hass auf Putin verspüre er nicht, sagte Chodorkowski. Als er verstanden habe, dass sich die russische Staatsmacht seiner Familie gegenüber „loyal“ verhalte, hätte er beschlossen, mit dem Ganzen pragmatisch umzugehen.

Zu seinen Vermögensverhältnissen äußerte sich Chodorkowski nicht näher. „Ich kenne meine finanziellen Verhältnisse derzeit nicht. Das Geld reicht mir zum Leben.“ Sein Geldvermögen wird immer noch auf viele Millionen geschätzt. Anders als zu Yukos-Zeiten sei er aber nicht mehr in der Lage, als Geldgeber für die Opposition aufzutreten, sagte er. „Ich habe diese finanziellen Möglichkeiten wirklich nicht.“

Auf einen neuen Rechtsstreit um den inzwischen zerschlagenen Ölkonzern Yukos werde er sich nicht einlassen. „Ich werde nicht um meine Yukos-Anteile kämpfen“, sagte Chodorkowski. Er habe auch nicht die Absicht, ins Geschäftsleben zurückzukehren. Er habe genug verdient und müsse nicht mehr arbeiten, um zu leben.

In zwei international umstrittenen Verfahren war Chodorkowski unter anderem wegen Steuerhinterziehung, Geldwäsche und Öldiebstahls verurteilt worden. Regulär wäre seine mehrfach reduzierte Haftzeit im August 2014 zu Ende gewesen. Chodorkowski kritisierte die Urteile erneut als Ergebnisse von politischer Justizwillkür. Zu seiner Klage gegen Russland vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg sagte Chodorkowski, dass die Arbeit fortgesetzt werde.

Chodorkowski hätte für diesen ersten Auftritt keinen symbolträchtigeren Ort wählen können. Der Checkpoint Charlie steht für die Konfrontation von Demokratie und Diktatur und war einer der heißesten Punkte des Kalten Krieges weltweit. Das Mauermuseum dokumentiert die deutsche Teilung und die Versuche, den Todesstreifen zwischen Ost und West zu überwinden. Es wurde 1963 eröffnet, dem Geburtsjahr Chodorkowskis.

Eine gute Stunde dauerte die Pressekonferenz. Zum Abschluss sagte Alexandra Hildebrandt vom Mauermuseum, sie ist in Kiew geboren, es sei ein Traum eines jeden Gefangenen, dass sich die Tür seiner Zelle öffnet und jemand zu ihm sagt, er sei frei. Und genau das habe Chodorkowski erlebt.