Box-Star Vitali Klitschko führt die Proteste gegen die ukrainische Regierung und will Staatschef werden. Was treibt ihn?

Hamburg. Irgendwann am Sonntagabend hat Fritz Sdunek es aufgegeben. Schon als er die Bilder im Fernsehen sah von den aufgebrachten Demonstranten in Kiew, und Vitali Klitschko mittendrin statt nur dabei, da wusste er, dass es schwer werden würde, seinen Lieblingsschüler auf dem Mobiltelefon zu erreichen. Und wenn selbst der 66-Jährige keine Verbindung herstellen kann zum Schwergewichts-Boxweltmeister, den er seit 1996 trainiert, dann ist das das untrügliche Zeichen dafür, dass Klitschko sein Leben gerade wieder einmal mit Vollgas auf die Überholspur gesteuert hat.

Vitali Wladimirowitsch Klitschko, geboren am 19. Juli 1971 im kirgisischen Belowodskoje, hat ein Problem, das ihn seit Kindertagen verfolgt und sein Leben verkompliziert: Er muss kämpfen. Immer, um alles. Deshalb gründete er im April 2010 die Ukrainische Demokratische Allianz für Reformen (Udar, übersetzt „Schlag“), als deren Vorsitzender er 2015 zu den Präsidentschaftswahlen antreten will, sofern die aktuellen Unruhen nicht jegliche Zeitpläne überholen. Er konnte nie einfach wegsehen, wenn Dinge geschahen, die er als Unrecht betrachtete. Er wollte es nie ertragen, anderen das Feld zu überlassen, ohne alles gegeben zu haben, was in ihm steckte. Und er durfte nie Schwäche zeigen, sondern musste diszipliniert sein, hart gegen sich und andere, so wie es ihm sein Vater, ein Oberst der Luftwaffe, der im Sommer 2011 an Krebs starb, eingetrichtert hatte.

Geschichten, die das belegen, gibt es viele. Als Kind musste Vitali stets auf seinen fünf Jahre jüngeren Bruder Wladimir aufpassen. Als beide im November 1996 ihre Profiboxkarriere im Hamburger Universum-Stall begannen, war Vitali, der beherrschte Stratege, der Kopf. Wladimir, der lockere Lebemann, war der Bauch, und das blieb so, bis sich beide acht Jahre später mit ihrer Firma KMG selbstständig machten und Wladimir sein Leben in die eigenen Fäuste nahm. Wenn Wladimir boxt, will er seine Gegner besiegen. Vitali will seine Kontrahenten zerstören. Das ist ein feiner Unterschied, aber er sagt viel über die Entschlossenheit, mit der sich der Ältere in diesen Tagen der ukrainischen Staatsmacht entgegenstellt.

Ein politischer Mensch war Vitali Klitschko immer schon, der Vater erzog ihn streng nach sowjetischer Weltanschauung. Dass aus dem älteren Sohn trotzdem ein Weltbürger wurde, einer, der sich in Kalifornien, wo er ein Haus besitzt, so wohl fühlt wie in Hamburg, wo Ehefrau Natalia mit den drei Kindern lebt, spricht für die Offenheit, mit der der 2,02-Meter-Hüne viele überrascht. Als junger Kickbox-Champion war er Ende der 80er-Jahre in die USA gereist und hatte feststellen müssen, dass die Gruselgeschichten über den westlichen Kapitalismus, die man ihm erzählt hatte, nichts waren als Propaganda. Diese Prägung mag einiges dazu beigetragen haben, dass er heute die Anbindung der Ukraine an Europa, an das westliche Wertesystem, als zentralen Punkt seiner politischen Überzeugung verkauft.

Einflussnahme von außen hat Vitali Klitschko schon früh in seiner Karriere abgelehnt. Er ist einer, der bestimmen will, was gespielt wird, ein Häuptling, kein Indianer. Politik zu machen als einfacher Abgeordneter, das wäre ihm zu wenig. Er ist im Boxen ja auch nicht irgendein Aufbaugegner, sondern Weltmeister. Sicher, in ihrer Anfangszeit wurden die Brüder vom ukrainischen Gasministerium gesponsert. Doch schon als der umstrittene Kiewer Bürgermeister Alexander Omeltschenko Anfang 2000 versuchte, sich die Weltmeisterehren zunutze zu machen, lehnte Klitschko allzu aufdringliche Annäherungsversuche ab.

2004, als die orange Revolution in der Ukraine die oppositionelle Julia Timoschenko zum Star machte, war Vitali Klitschko ein glühender Unterstützer. Während in Kiew die Massen auf die Straße gingen, musste er sich im fernen Las Vegas auf seine Titelverteidigung gegen den Briten Danny Williams vorbereiten. Wer ihn dort erlebte, wie er kurz davor war, die Handschuhe hinzuwerfen und in die Heimat zu fliegen, um dort zu kämpfen, der konnte spüren, dass damals der Grundstein für die zweite Karriere in der Politik gelegt wurde. Doch als einige Jahre später die Koalition zwischen der Udar und Timoschenkos Vaterlands-Partei kriselte, da machte der Boxchampion deutlich, dass er sich niemandem verpflichtet fühlt – außer dem ukrainischen Volk.

Wie sehr das Volk ihn liebt, ist unklar, aber Umfragen geben ihm gute Chancen

Wie sehr dieses ihn liebt, ist unklar. Umfragen bescheinigen ihm im Duell mit Präsident Viktor Janukowitsch zwar gute Chancen. Doch dass seine Familie nicht in Kiew lebt und auch er selbst möglicherweise gegen Artikel 103 der Verfassung verstoßen haben könnte, nach dem sich ein Bewerber in den zehn Jahren vor seiner Kampagne dauerhaft in der Ukraine aufgehalten haben muss, wird ihm besonders in der pro-russischen Landbevölkerung angekreidet.

Vitali Klitschko ficht das nicht an. Oft wurde er schon gefragt, warum er sich mit den vielen erboxten Millionen nicht einen ruhigen Lebensabend in Deutschland oder den USA gönne. Seine Antwort ist die gleiche wie die auf die Frage, warum er 2009 nach seiner fast fünfjährigen Verletzungspause noch einmal in den Ring zurückkehrte. „Weil ich kämpfen möchte für das, was ich für richtig halte.“

Bei seinem Comeback als Boxer war er besser als je zuvor, und auch wenn sein letzter Kampf im Ring 14 Monate zurückliegt und man sich angesichts der jüngsten Bilder kaum vorstellen kann, wie er eine achtwöchige Vorbereitung in seinem Kalender unterbringen will, hat er seine Karriere noch nicht endgültig beendet. „Vitali will noch einen Kampf machen, und was er will, das schafft er meistens auch“, sagt Trainer Sdunek.

Die Frage ist, was Vitali Klitschko mehr will: dem Volk als Boxweltmeister ein strahlendes Vorbild sein oder es als Politiker in eine Zukunft führen, die er für eine bessere hält. Lange genug hat er beides in Einklang gebracht, aber die Zeit scheint gekommen, in der diese Aufgabe selbst für ihn zu groß wird. „Heimat ist dort, wo das Herz zufrieden ist“, hat Vitali Klitschko mal gesagt. Er muss also in Kiew bleiben, er kann nicht anders. Er hat eben ein Kämpferherz.