Die EU hat den Kampf um die Ukraine verloren. Funktioniert ihre Ost-Diplomatie noch?

Der Blick auf die Prachtstraße Kiews ist dieser Tage besonders bitter. Dort wehen Fahnen der Europäischen Union neben Fahnen der Ukraine. Beide gelb und blau, in Eintracht. In der ukrainischen Hauptstadt kämpfen mehrere Hunderttausend Menschen für die EU. Doch die hat auf dem politischen Parkett den Kampf um die Ukraine vorerst verloren. Präsident Viktor Janukowitsch will das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnen. Es ist eine politische Entscheidung gegen die EU, für Russland. Und gegen das eigene Volk.

Seit Jahren hatte sich die Ukraine in Richtung Europa bewegt, viele Menschen sind den Werten der EU nahe. Sie wollen einen Rechtsstaat, sie wollen faire Wahlen und freie Journalisten. Vor allem über Moskaus harte Hand gegen das eigene Land wuchs die Kritik – sogar Janukowitsch setzte Reformen in der Justiz um. Und auch in der russischsprachigen Ost-Ukraine nahmen moskaukritische Stimmen zu. Nun aber scheiterte die Annäherung. Zuvor hatten schon Weißrussland und Armenien der EU abgesagt. Wie konnte es so weit kommen?

Russland und die EU lieferten sich in den vergangenen Monaten einen Wettbewerb, der an die Stellvertreterkämpfe des Kalten Krieges erinnerte. Die EU bot der Ukraine einen Kredit über 610 Millionen Euro, Demokratieförderung und Rechtshilfe. Dagegen standen Moskaus Geschenke: Zusagen über mehrere Milliarden Euro, Subventionen und Schuldenerlass, zollfreier Import. Europa konnte dieses Machtspiel nicht mehr mitspielen. Das EU-Personal in Brüssel muss in einer schmerzhaften Lektion lernen, dass die EU-Ostpolitik kein Selbstläufer ist.

Aber das sollte sie auch niemals sein. Eine Partnerschaft mit der EU basiert auf Verlässlichkeit und Seriosität. Eine Partnerschaft mit Russland basiert vor allem auf Drohungen und Geschenken. Und doch zeigt der Streit um die Ukraine ein europäisches Dilemma: Die EU pocht in der Diplomatie mit den östlichen Nachbarn auf Werte wie Freiheit und Rechtsstaat. Der Fall Ukraine zeigt jedoch, dass sie mit dieser Politik riskiert, am Ende ohne Partner – und ohne Demokratie in ihren Partnerländern – dazustehen.

Wer mit Oppositionellen in der Ukraine spricht, hört einen zynischen Spruch: Pluralismus und Vielfalt gebe es doch längst in der Ukraine – bloß ist es eine Vielfalt der Oligarchen. Denn eine Handvoll Clans und Präsident Janukowitsch regieren das Land, mit ihren Milliarden, mit ihren Medien und vor allem mit einem Ziel: Machterhalt. Und der funktioniert besser und länger, solange das Gas und das Geld aus Russland fließen. Zugespitzt formuliert: Was interessieren die Früchte der Demokratie, wenn Russland das Steak in der Pfanne brät. Diese Politik ist kurzsichtig, aber sie verhindert den akuten Zusammenbruch des Landes. Denn die Ukraine ist kaum mehr zahlungsfähig und seit Jahren in einer wirtschaftlichen Rezession. Doch ist es auch eine Kurzsichtigkeit, die Janukowitsch 2015 die Wiederwahl sichern könnte.

Wie also kann die EU das Dilemma lösen? Sicher nicht, indem sie sich aufführt wie Russland und Blankoschecks für Loyalität verteilt. Europa würde sein wertvollstes Gut verlieren: die Glaubwürdigkeit. Außerdem muss die EU die Tür für die Ukraine nach Europa weiter offenhalten. Zieht sie sich zurück, überlässt sie Russland das Feld. Und nimmt der demokratischen Opposition der Ukraine den Schwung.

Es wird für die EU nun darauf ankommen, eine einheitliche und laute Stimme der Mitgliedstaaten gegenüber Russland zu finden. Das Land unter Präsident Wladimir Putin fährt eine Geopolitik, auf die Europa mit eigener Geopolitik antworten muss. Dafür braucht die EU Durchhaltevermögen und Selbstbewusstsein. Sie braucht Lockmittel wie die EU-Mitgliedschaft, sie benötigt Geld. Und weiterhin auch ihre stärksten Güter: Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit.

Der Autor ist Redakteur im Politikressort des Abendblatts