Im Asyl in Moskau lerne er Russisch, gehe ins Theater und besuche „schöne Orte“, sagt der Geheimdienst-Enthüller. Aber er bleibt ein Phantom

Moskau. Edward Snowden ist seit seiner Ankunft in Moskau ein Phantom. Er selbst will oder darf über sein Leben in Russland nicht viel erzählen. Man weiß nur Banales. Etwa, dass er in Moskau Tortilla-Chips der Sorte Doritos vermisst. Das berichtete der NDR-Reporter John Goetz nach dem Treffen zwischen Snowden und dem Grünen-Abgeordneten Hans-Christian Ströbele für die „Süddeutsche Zeitung“. Der ehemalige US-Geheimdienstler habe gestrahlt, als er die von den Besuchern aus Deutschland mitgebrachten Tüten voller Knabberzeug gesehen habe. Er vermisse auch seine Familie und Freunde, das sei der Preis für seine Handlungen, sagte er. Er fühle sich wohl in Russland, lerne die Sprache und interessiere sich für die Kultur. Diese Sprachregelung hat man schon oft gehört – von seinem russischen Anwalt Anatoli Kutscherena und von seinem Vater Lon Snowden, der Mitte Oktober seinen Sohn besuchen durfte.

Doch wo der NSA-Enthüller lebt und mit welchen Mitteln er sein Leben bestreitet, ob er sich frei bewegen kann und in welchem Verhältnis er zum russischen Geheimdienst FSB steht, darüber gibt es nur Mutmaßungen und Gerüchte. Snowden traf Ströbele an einem geheimen Ort, zu dem die Beteiligten in einem Auto mit verdunkelten Scheiben gebracht wurden. Snowden wurde von der Wikileaks-Juristin Sarah Harrison begleitet. Die Film- und Fotoaufnahmen sagen wenig über den Ort aus: ein gedeckter Tisch, gerahmte Bilder an der Wand – ein durchschnittliches russisches Gebäude, vielleicht ein Gasthaus in Moskau oder in der Umgebung der Hauptstadt.

Seit seiner Ankunft am Moskauer Flughafen Scheremetjewo am 23. Juni sickerten kaum Informationen über Snowden durch, die nicht vom FSB gefiltert und sortiert wurden. Einen Monat verbrachte er im Transitbereich des Flughafens, wo ihn keiner gesehen hat. Kein Mitarbeiter des Flughafens und kein Fluggast konnten ein Foto von ihm oder Sarah Harrison machen. Erst nach einem Treffen mit russischen Menschenrechtlern und Juristen wurde ein Video veröffentlicht, in dem Snowden sagte, er wolle in mehreren Ländern Asyl beantragen. Als er am 1. August in Russland vorläufiges Asyl erhielt und den Flughafen verließ, gelang es ihm, jeglichen Kontakt zu den Dutzenden wartenden Journalisten zu vermeiden. Bilder davon, wie der ehemalige Mitarbeiter des US-Geheimdienstes NSA in ein Taxi steigt, wurden exklusiv von den Medien des kremlnahen Verlagshauses News Media veröffentlicht – dem Boulevard-Portal Lifenews.ru und der Zeitung „Iswestija“. Lifenews.ru ist dafür bekannt, regelmäßig Material von der russischen Polizei und dem FSB zugespielt zu bekommen. Das Portal hatte etwa die abgehörten Telefongespräche des oppositionellen Politikers Boris Nemzow sowie Mails der Wahlbeobachter-Organisation Golos veröffentlicht.

Vergangene Woche veröffentlichte Lifenews.ru ein Foto, das den IT-Spezialisten auf einer Bootstour in Moskau zeigt. Das Bild sei vor anderthalb Monaten gemacht worden, hieß es. Im Hintergrund sieht man grüne Bäume, Snowden und zwei seiner Begleiterinnen sind sommerlich gekleidet. Das Boot steuert auf die goldenen Kuppeln der Christus-Erlöser-Kathedrale im Zentrum der russischen Hauptstadt zu. Snowden blickt direkt in die Kamera, er trägt keine Brille, eine Schiebermütze und einen Bart, ist aber durchaus zu erkennen. Zuvor schon hatte Lifenews.ru ein Foto veröffentlicht, auf dem Snowden mit einem Einkaufswagen mit prall gefüllten Tüten auf einem Parkplatz zu sehen ist. Anwalt Kutscherena sagt immer wieder, sein Mandant könne sich in Russland frei bewegen. Er gehe spazieren, sei schon durchs Land gereist und habe mehrere „schöne Orte“ gesehen. Er sei sogar einmal im Theater gewesen. „Ich möchte ihn überreden, dass er die Olympischen Spiele in Sotschi besucht“, sagte der enge Vertraute des russischen Präsidenten Wladimir Putin der staatlichen Nachrichtenagentur Itar-Tass.

Der von US-Geheimdiensten und Journalisten aus aller Welt gesuchte Mann läuft also frei durch die Millionenstadt Moskau, geht einkaufen und ins Theater, schaut sich die Sehenswürdigkeiten an, und doch hat ihn niemand bis jetzt gesehen? Es muss davon ausgegangen werden, dass Snowden von russischen Geheimdiensten rund um die Uhr bewacht, betreut und abgeschirmt wird.

Moskau ist teuer, wie bezahlt Snowden seine Einkäufe und Theaterbesuche? Kutscherena meint, er lebe von Spenden und eigenen Ersparnissen, die allerdings fast aufgebraucht sind. Und seit dem 1. November habe er einen Job bei einer großen russischen privaten Internetfirma. Doch keines der großen Unternehmen, die infrage kommen, konnte das bisher bestätigen. Die Suchmaschine Yandex und die Mail.ru Group, die mehrere russischsprachige Internetdienste besitzt, teilten mit, Snowden werde bei ihnen nicht arbeiten. Die Medien spekulierten, dass die russische Facebook-Imitation VK.com Snowdens neuer Arbeitgeber sei. VK.com-Gründer Pawel Durow hatte dem Amerikaner bereits im Sommer Arbeit angeboten. Doch auch Durow sagte, Snowden stehe nicht in seinen Diensten.

Edward Snowden ist sicher in Moskau, aber wirklich frei ist er nicht. Der Amerikaner steht unter Aufsicht der russischen Behörden. Bald muss sich Snowden nach einer neuen Bleibe umsehen. Und er zeigt ziemlich deutlich, dass er wegwill. Sein Treffen mit Ströbele scheint zu beweisen, dass er in den Westen will. „Ich freue mich auf ein Gespräch mit Ihnen in Ihrem Land, sobald die Situation geklärt ist“, schreibt er in seinem Brief an die Bundestagsabgeordneten. Er sei bereit, zu der Ausspähung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) durch die NSA auszusagen, allerdings nicht auf russischem Boden, sagte Ströbele. Doch wenn Snowden nach Deutschland reise, werde er seinen Asylstatus in Russland verlieren, der noch bis Sommer 2014 gültig sei, warnte der Jurist Kutscherena. Er müsse nach seiner Ausreise neues Asyl beantragen. Moskau ist dagegen bereit, das Befragen von Snowden in Russland zuzulassen. Snowden sei „frei, sich mit irgendjemandem zu treffen. Wir können ihn daran nicht hindern“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow der russischen Zeitung „Kommersant“.

Snowden ist Russlands Trumpf. Präsident Putin aber dürfte für Snowden wenig Verständnis haben. Im Sommer bezeichnete er ihn als „Dissidenten“, aus dem Mund des ehemaligen KGB-Mannes klang das nicht nach Anerkennung oder auch nur Billigung. Als einer, der aus moralischen Prinzipien seinen Arbeitgeber, den US-Geheimdienst NSA, verraten hat, kann Snowden vom Kreml weder Respekt noch Vertrauen erwarten. Doch Putin weiß auch, dass die NSA-Affäre dem Ansehen der USA und ihrem Verhältnis zu Europa schadet. Und das kann für ihn nur nützlich sein.