Der US-Präsident schien einen kurzfristigen Einsatz der US-Streitkräfte zu planen. Nun will er das Votum des Kongresses abwarten

Washington. „Dear Mr. Speaker“, beginnt der Dreizeiler des Präsidenten an den „lieben Herrn Sprecher“ des Repräsentantenhauses, John Boehner, „hiermit übermittle ich den angefügten Antragsentwurf bezüglich der Autorisierung zum Einsatz der bewaffneten Streitkräfte der Vereinigten Staaten im Zusammenhang mit dem Konflikt in Syrien. Hochachtungsvoll Barack Obama.“

Dieser Brief vom Sonnabend samt einem anderthalbseitigen Antrag an das Repräsentantenhaus, der mit gleichem Wortlaut auch an Vizepräsident Joe Biden als Chef des Senats ging, stellt einen jähen Kurswechsel in der Politik Obamas dar. Bis Sonnabendmittag schien er auf einen kurzfristigen Militärschlag gegen Syrien zuzusteuern. Nun ist dieses Vorhaben des Präsidenten, das er ebenfalls am Sonnabend im Rosengarten des Weißen Hauses benannte, bis nach dem 9. September aufgeschoben, dem Datum der Rückkehr der Senatoren und Abgeordneten aus der Sommerpause.

Darüber hinaus gibt der Präsident, der entsprechend der „War Powers Resolution“ über die gesetzgeberische Kompetenz verfügt, das Militär ohne Einbindung des Kongresses in Marsch zu setzen, die letzte Verantwortung faktisch an die Republikaner ab. Denn sie dominieren das Repräsentantenhaus. Eine Zustimmung beider Kammern des Kongresses ist mithin alles andere als sicher – Londons Unterhaus lässt grüßen und die Frage aufkommen, ob Washington neuerdings an der Themse liegt.

Der jähe Kurswechsel hat auch die engste Umgebung des Präsidenten völlig überrascht. Er stellt auch einen Bruch mit der bisherigen sicherheitspolitischen Praxis Obamas und der Tradition des Weißen Hauses dar. Als Obama im März 2011 Militäraktionen gegen Libyen befahl, informierte er den Kongress erst zwei Tage nach den ersten Raketeneinschlägen.

Ähnlich verfuhren alle seine Vorgänger nach dem Zweiten Weltkrieg, angefangen bei Harry S. Truman, der ohne Befragung der Legislative 1950 die Truppen nach Korea schickte. Weder John F. Kennedy noch Lyndon B. Johnson und George W. Bush suchten bei Militäraktionen gegen Kuba und den Kriegen in Vietnam, Afghanistan und dem Irak vorab Rückendeckung auf dem „Hill“, dem Sitz von Senat und „House“.

Hat Barack Obama die Nerven verloren? Ursprünglich hoffte der Präsident auf ein Mandat im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Als eine entsprechende Resolution an Russland und China scheiterte, setzte er zumindest auf die innenpolitische Unterstützung durch die Republikaner. Doch aus der „Grand Old Party“ kam in den letzten Tagen massive Kritik, weil hinter dem Plan eines eng begrenzten Militärschlags gegen Assad keine überzeugende Strategie erkennbar sei, und auch unter Obamas Demokraten war der Rückhalt überschaubar.

In Umfragen sank die Zustimmung der Bevölkerung für eine Militäraktion auf bis zu neun Prozent. Da schien die letzte verlässliche Größe London zu sein – doch Premierminister David Cameron verlor am Donnerstag im Unterhaus die Abstimmung über eine Beteiligung Großbritanniens an der Strafaktion gegen Syrien.

Nun scheint Washington plötzlich an die Themse verrutscht zu sein. Die USA könnten auch im Alleingang handeln, ließ Obama in den vergangenen Tagen trotzig wissen. Offenkundig wuchsen beim Präsidenten aber die Zweifel daran. Am Freitagabend beschloss er nach einem 45-minütigen Spaziergang mit seinem Stabschef Denis McDonough, dass er den Kongress um Autorisierung des geplanten Militärschlags bitten werde.

Der 43-jährige McDonough, der bis Januar Obamas stellvertretender Nationaler Sicherheitsberater war, hatte sich in der Vergangenheit wiederholt gegen ein US-Engagement in Syrien ausgesprochen. Er fürchtete eine schleichende Verwicklung der Vereinigten Staaten in einen Konflikt, der etliche Jahre dauern könnte. Damit lag McDonough auf der Linie des Präsidenten, der entgegen dem vorübergehend starken Druck auf dem Außen- und dem Verteidigungsministerium lange Zeit selbst Waffenlieferungen an die Rebellen abgelehnt hatte.

Erst nach dem massiven Giftgasangriff in Ghouta vom 21. August, der von Augenzeugen und den US-Geheimdiensten dem Assad-Regime angelastet wird, sah sich Barack Obama zur Planung einer Militäraktion genötigt. Mit seiner überraschenden Bitte an das Parlament, seine Syrien-Planung zu autorisieren, geht der Präsident ein gewaltiges Risiko ein. Andererseits zeugt das Manöver von Kühnheit, bringt der Präsident doch die Republikaner in Zugzwang. Senator John McCain etwa, sein gescheiterter Kontrahent bei den Präsidentenwahlen 2008, trommelt schon seit mehr als einem Jahr für eine Unterstützung der syrischen Rebellen durch die USA. Zwar kann McCain argumentieren, Obamas Plan eines sehr begrenzten Militärschlags, der das Kräfteverhältnis zwischen Regime und Aufständischen nicht verändern soll, greife zu kurz. Trotzdem dürfte es für jeden Republikaner schwierig werden, angesichts von 1429 Menschen, darunter mindestens 426 Kinder, die nach US-Erkenntnissen in Ghouta starben, eine Bestrafung der Täter zu blockieren.