Die schweren Krawalle in Stockholm halten an. Radikale Jugendliche attackieren Feuerwehrleute. Radikale Parteien rufen nach Einwanderungsstopp.

Stockholm. Ahmed Guneri wird diese Nacht so schnell nicht vergessen. Der 42-Jährige betreibt im Stockholmer Vorort Husby seit zwölf Jahren ein kleines Restaurant, das vor allem bei den Anwohnern des mit tristen Wohnsilos bebauten Stadtteils im Südwesten der schwedischen Hauptstadt beliebt ist. In der Nacht zum Donnerstag glich die Straße vor Guneris Restaurant einem Kriegsschauplatz. Dicke Rauchschwaden von brennenden Reifen machten die Luft schwer, beißender Qualm von verbranntem Gummi breitete sich aus. Durch das Fenster seines Restaurants beobachtete Guneri, wie Jugendliche die Feuerwehrleute mit Steinen bewarfen. „Ich habe so etwas hier noch nie erlebt“, sagt Guneri.

Es ist die vierte Nacht in Folge, in der es in mehreren Stockholmer Vororten zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und der Polizei kommt. Die traurige Bilanz der vergangenen Nächte: mehrere durch Steinwürfe verletzte Polizisten und Feuerwehrleute, über 100 bis auf ein Gerippe niedergebrannte Autos, mindestens vier Brandanschläge auf Polizeistationen, zerborstene Fensterscheiben, brennende Mülltonnen und Hauseingänge. „Allein in der Nacht auf Donnerstag mussten wir mehr als 100-mal ausrücken“, sagt Kjell Lindgren, Sprecher der Stockholmer Polizei und betont, dass die Hauptaufgabe seiner Kollegen die Unterstützung der Feuerwehr bei der Bekämpfung der Brände sei.

Nach seinen Angaben wurden seit Dienstag acht Kinder und Jugendliche vorübergehend festgenommen. „In Husby hat sich auch dank der Unterstützung der Bewohner die Lage nun leicht beruhigt“, sagte Lindgren. „Dafür verkompliziert sich die Lage in anderen Vororten.“

Die Polizei hat bislang zwei junge Männer im Alter von 18 und 19 Jahren festgenommen. Gegen sieben weitere laufen Ermittlungen wegen der Brandanschläge. „Viele Anwohner sind in den vergangenen Nächten auf die Straße gegangen, um die Jugendlichen von weiteren Übergriffen abzuhalten“, sagte ein Polizeisprecher in Fittja, einem weiteren Stockholmer Vorort, in dem es zu Ausschreitungen gekommen ist.

Während sich Polizei und Feuerwehr jetzt Verstärkung aus anderen Regionen anfordern, diskutieren Menschen und Medien in Schweden die Ursachen für die Gewalt. Angefangen hatten sie Sonntagnacht im Vorort Husby. Die Polizei hatte dort bei einer Wohnungsdurchsuchung einen 69-jährigen Mann erschossen, der mit einer Machete auf die Beamten losgegangen war. Nach offiziellen Angaben handelten die Beamten in Notwehr. Experten sind sich einig, dass der Zwischenfall nur der Auslöser für die Krawalle gewesen ist.

Professor Ove Sernhede vom Zentrum für urbane Studien in Stockholm machte in einem Artikel der Tageszeitung „Svenska Dagbladet“ die verfehlte Integrationspolitik und fehlende Stadtplanungskonzepte für die dramatisch gewachsene Kluft zwischen Arm und Reich in Schweden verantwortlich. „Viele Migranten haben den Halt in unserer Gesellschaft verloren und leben unter äußerst prekären Verhältnissen“, schreibt Sernhede und sieht die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Schweden nicht als ein konjunkturelles, sondern ein strukturelles Problem. In den meist in den 70er-Jahren errichteten Vororten Stockholms leben hauptsächlich Einwanderer der ersten und zweiten Generation. Vor allem die Heranwachsenden sind überdurchschnittlich von der in Schweden ohnehin hohen Jugendarbeitslosigkeit betroffen. Mehr als jeder vierte Heranwachsende findet keinen Job oder keine Ausbildung. Bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist dieser Anteil noch deutlich höher. Etwa 15 Prozent der schwedischen Bevölkerung wurde im Ausland geboren. Dies ist der höchste Anteil in einem skandinavischen Staat.

Die Proteste rücken nun den Abbau des Sozialsystems und die mangelnde Integration der Einwanderer in den Fokus. Seit rund 20 Jahren verringert die Regierung in Stockholm nach und nach die staatlichen Unterstützungsleistungen. Dadurch öffnete sich die soziale Schere überdurchschnittlich. „Wer hier aufwächst, hat kaum eine Chance in der übrigen schwedischen Gesellschaft“, heißt es in einer von der bürgerlichen Regierung in Auftrag gegebenen Studie. Danach haben etwa 40 Prozent der Jugendlichen zwischen 20 und 25 Jahren, die in den Problemvierteln der drei Großstädte Stockholm, Göteborg und Malmö leben, weder einen Schulabschluss noch eine Arbeit.

Zudem begann in den 90er-Jahren die damalige sozialdemokratische Regierung mit der Kürzung zahlreicher Sozialleistungen. Der konservative schwedische Regierungschef Fredrik Reinfeldt räumte diese Woche Versäumnisse der Politik ein. „Was wir jetzt sehen, zeigt, dass wir noch mehr machen müssen“, sagte er. Der Sprachunterricht soll verbessert und mehr Förderklassen in den Schulen geschaffen werden. Der Regierungschef machte aber gleichzeitig deutlich, dass Schweden die Gewaltausbrüche nicht akzeptieren werde. „Das Auto des Nachbarn anzuzünden ist keine Form der Meinungsäußerung, sondern schlicht und einfach Vandalismus “, betonte er.

Es ist nicht das erste Mal, dass es in schwedischen Vorstädten zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund und den Ordnungskräften kommt. Auch in Göteborg und Malmö kommt es seit Ende der 90er-Jahre immer wieder zu Protesten. Besonders schwere Ausschreitungen gab es vor fünf Jahren im Malmöer Stadtteil Rosengård. Auch dort brannten Autos und wurden Polizeistationen verwüstet. Allein im vergangenen Jahr kamen etwa 44.000 Asylbewerber nach Schweden, die meisten stammen aus dem Iran, Irak und einigen afrikanischen Ländern. Jetzt denken erste Politiker bereits über eine neuerliche Verschärfung der Einwanderungsgesetze und Asylregelungen nach.

In Schweden wird in einem Jahr gewählt. Trotz vieler Skandale liegen die rechtsradikalen Schwedendemokraten stabil bei rund sieben Prozent. Sie sitzen bereits heute im Parlament und dürften auch im neuen Reichstag vertreten sein. Die Krawalle in den Stockholmer Vorstädten spielt dieser Gruppierung in die Hände. Die Schwedendemokraten fordern einen Einwanderungsstopp. Ob restriktivere Gesetze das Problem lösen, ist zu bezweifeln. Nach Aussagen von Stadtplanern ist es weniger die Anzahl der Migranten, sondern die missglückte Integrationspolitik, die zu den Unruhen geführt hat.

In Husby, Skogås, Skärholmen, Hjulsta und Jacobsberg waren Polizei, Feuerwehr und Anwohner mit den Aufräumarbeiten beschäftigt. Gleichzeitig versuchten die Ordnungskräfte die angespannte Situation zu deeskalieren. Ein Feuerwehrmann richtete über Facebook einen Appell an die jugendlichen Brandstifter: „Heute Nacht hast du mit Steinen nach uns geworfen. Aber ich helfe deiner Schwester, wenn es in ihrer Küche brennt. Ich springe ins kalte Wasser, wenn dein kleiner Bruder aus dem Boot fällt, ich helfe dir, wenn du an einem sonnigen März-Tag ins Eis einbrichst. Warum verhältst du dich gegenüber mir so?“

Die älteren Bewohner von Husby haben eigene Patrouillen organisiert. „Wir sprechen mit den Jugendlichen und versuchen sie davon zu überzeugen, dass sie sich selbst und uns allen sehr schaden“, sagt Julia, eine Chilenin, die hier seit mehr als 20 Jahren mit ihrem Mann und den drei Kindern lebt.