Frankreichs Präsident und die Kanzlerin entwickeln am 50. Geburtstag des Élysée-Vertrags ihre Visionen von Europa

Berlin. Etwas an der Innenarchitektur des Reichstags scheint ausländische Staatsoberhäupter zu verwirren: Als der französische Staatspräsident François Hollande am frühen Nachmittag nach vorne geht, um als Gast im deutschen Parlament zu sprechen, macht er exakt den gleichen Fehler, den an gleicher Stelle das letzte fremde Staatsoberhaupt vor einem Jahr gemacht hat. Wie Papst Benedikt XVI. steuert auch Hollande nämlich nicht das Rednerpult an, sondern den dahinter, aber auch höher liegenden Platz des Bundestagspräsidenten und muss sanft umgeleitet werden.

Während der Heilige Vater vor einem Plenum redete, das zu einem Viertel aus Protest leer blieb, spricht der aus der Kirche ausgetretene sozialistische Präsident vor übervollem Haus. Zusätzliche zu den deutschen Parlamentariern waren auch alle Abgeordneten der Nationalversammlung eingeladen. Und fast alle kamen.

Den ersten Akzent setzte allerdings nicht Hollande, sondern Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU), der als Gastgeber sprach und sich dennoch traute, Wahrheiten auszusprechen: "In jeder langjährigen stabilen Beziehung gibt es Phasen der Leidenschaft und solche der Vernunft.", sagte er und gab zu: "Im Augenblick befinden sich unsere beiden Länder eher in einer Phase der, sagen wir mal, leidenschaftlichen Vernunft als der romantischen Verliebtheit. Das muss kein Nachteil sein."

Tatsächlich ziehen beide Staaten zurzeit ja nicht an einem Strang. Den Fiskalpakt, das zentrales Projekt von Kanzlerin Merkel in der Euro-Rettung, wollte Präsident Hollande noch im Wahlkampf rückgängig machen. Seine Vorschläge, das Wachstum in den kriselnden Ländern im Süden Europas mit teuren Investitionsprogrammen zu fördern, hat die Kanzlerin nur zögernd angenommen. Dennoch bekräftigte Hollande in seiner Rede, der einige Bundesminister wie Peter Altmaier und Kristina Schröder ohne Übersetzungshilfe folgten, den Führungsanspruch von Frankreich und Deutschland in der Europäischen Union: "Wir sind diejenigen, die zeigen müssen, wohin der Weg geht." Er forderte beide Länder auf, noch stärker zusammenzuarbeiten. Einige Abgeordneten horchten auf, als er auf die "politische Union" zu sprechen kam und sagte: "Ich bin bereit, mir alle Vorschläge anzuhören. Wir müssen das europäische Modell weiterentwickeln."

Bisher strebt die politische Klasse in Frankreich kein Zusammenwachsen des Kontinentes zu einer Förderation oder gar den "Vereinigten Staaten von Europa an", wie das lagerübergreifend viele Politiker in Deutschland tun. Hollande sagte aber auch: "Um uns zu einen, müssen wir uns nicht ähneln." Hollande erklärte die "soziale Marktwirtschaft" zur Grundlage der europäischen Gemeinschaft und schilderte sie als ein Modell für die Welt. Ja, der französische Präsident ließ anklingen, was nicht jeder unter den deutschen Abgeordneten gerne gehört haben wird: Europa als ein Gegenentwurf zu anderen Akteuren der Weltpolitik, vulgo: zu den USA. "Europa ist eine Macht", erklärte er, "aber eine Macht, die unterschiedlich ist, die dem Frieden dienen will."

Die direkt nach ihm sprechende Angela Merkel betonte in ihrer Rede hingegen, dass seit den Vätern des Élysée-Vertrags Charles de Gaulle und Konrad Adenauer klar sei: Die Alternative einer Freundschaft mit Paris und einer mit Washington sei keine. Aber auch die Kanzlerin ließ - eigentlich untypisch für sie - die Idee von Europa als einer Trutzburg gegen die Globalisierung anklingen. Nachdem sie den gemeinsamen Einsatz für die Finanztransaktionssteuer beschwor, sagte sie: "Die Menschen in Frankreich und Deutschland werden nicht akzeptieren, dass unregulierte Kräfte in der Welt zerstören, was sie mit ihrer Arbeit aufbauen."

Merkel erinnerte ebenfalls an de Gaulle und Adenauer, zitierte aber ebenfalls François Mitterrand und Helmut Kohl, die 1988 gemeinsam den Karlspreis erhielten. Schon damals sei der Auftrag gewesen, einerseits an der Währungsunion, andererseits aber auch an einer gemeinsamen Sicherheitspolitik zu arbeiten.

Hier streifte sie einen schwierigen Punkt. Denn zurzeit bekämpfen in Mali keine europäischen und keine deutschen Soldaten den islamistischen Terrorismus, sondern französische Einheiten. "Wir kennen keinen Krieg mehr", rief Merkel aus und meinte: keinen Krieg in Europa. Ein Zwischenrufer erinnerte daran, dass Frankreich gerade sehr wohl Krieg führe. Hollande hatte vorher die deutsche Unterstützung für den Mali-Einsatz gewürdigt. Merkel ihrerseits dankte den Familien der französischen und deutschen Soldaten, die "in Einsätzen" dienten.

Wenn die Begegnungen im Rahmen der Feierlichkeiten zum 50. Jubiläum des Élysée-Vertrags eines geleistet haben, dann ist dies, das zuletzt etwas eingetrübte Klima zwischen Berlin und Paris aufzuhellen. Das scheint nötig, denn Reizthemen gibt es reichlich, nicht nur wegen des Militäreinsatzes in Mali, den Deutschland bislang mit zwei Transall-Maschinen unterstützt. Auch der ständigen deutschen Ermahnungen, größere Reformanstrengungen vorzunehmen, war man in Paris in letzter Zeit müde geworden. Die auf den Weg gebrachten Maßnahmen fühlte man nicht genug gewürdigt. Leicht grummelnd hatte man auch die deutsche Verzögerungstaktik bei der Bankenunion und deutsche Ausnahmewünsche hingenommen. Über all diese Themen hatte man am Dienstag Gelegenheit zu reden und Missverständnisse aus dem Weg zu räumen.