Seit einem Jahr wird gegen Wahlbetrug und autoritäre Herrschaft demonstriert. Hoffnung auf revolutionäre Veränderungen schwindet jedoch.

Moskau. Am Sonnabendnachmittag ist der Platz vor der Zentrale des russischen Geheimdienstes FSB voll mit Polizeiwagen. Busse und Reinigungsfahrzeuge stehen bereit, um im Notfall alle Zugänge zum Platz abzusperren. Am Himmel kreist ein Hubschrauber. Seit einem Jahr ist das zum fast gewohnten Bild in Moskau geworden. Diesmal ist der Grund für das Sicherheitsaufgebot, dass Hunderte Menschen sich auf dem Lubjanka-Platz versammeln wollen. Die Opposition plante einen Marsch zum Jahrestag der Proteste gegen Russlands Führung. Die Behörden bestanden auf einer anderen Route. Die Oppositionellen gaben nicht nach - das Ergebnis ist eine ungenehmigte Aktion. In der Regel gibt es bei solchen Versammlungen Dutzende Festnahmen: Jeder, der ein Plakat rausholt oder "Russland ohne Putin" ruft, landet im Polizeiwagen. Am Sonnabend wurden 69 Menschen festgenommen.

Inna Karesina will dieses Mal nicht auf einer Polizeistation landen, sagt sie vor der Aktion. Die Theologin aus der Satellitenstadt Koroljow hat etwas Wichtigeres zu tun - sie organisiert am nächsten Tag ein Treffen der Wahlbeobachter in ihrer Stadt. Über die Demo sagt sie: "Es ist schon fast langweilig. Alles ist bereits bekannt." Noch vor einem Jahr hätte sie das nicht gesagt. Aber damals nahm ihr Leben eine neue Wende. Im Dezember 2011 hörte sie im Radio, dass mindestens 30.000 Menschen zu einer Demonstration in Moskau gehen, um gegen Fälschungen bei den Parlamentswahlen zu protestieren. Die Aktion war genehmigt und innerhalb von Sekunden entschied Karesina, dass sie daran teilnehmen muss. Am 10. Dezember ist sie zum Bolotnaja-Platz gegangen. Später schlossen sie sich einer Gruppe von Freiwilligen an, die kreative Plakate für die nächste Demo am 24. Dezember entwarfen.

Der plötzliche Ausbruch politischer Aktivität in den russischen Großstädten vor einem Jahr war eine Überraschung. Die russische Gesellschaft galt als angepasst und passiv. Eine Studie des soziologischen Instituts Lewada-Zentrum, die das Protestjahr analysiert, findet mehrere Ursachen dafür. In den Jahren nach der Finanzkrise ist in Russland das Gefühl der Unsicherheit langsam gewachsen. Gleichzeitig verschwand das Vertrauen in staatliche Institutionen und das politische System. Im Sommer 2011 erwarteten 57 Prozent der Russen, dass es Wahlfälschungen zugunsten der Regierungspartei geben wird. Ein wichtiger Wendepunkt war die Erklärung des damaligen Präsidenten Dmitri Medwedew, dass er an den nächsten Wahlen nicht teilnimmt und Wladimir Putin wieder kandidieren wird. Die "Machtrochade" war ein Realitätsschock für diejenigen, die mit Medwedew die Hoffnung auf demokratische Reformen verbunden hatten.

Im Dezember kochte dann die Unzufriedenheit hoch, und Zehntausende gingen auf die Straße - viele zum ersten Mal im Leben. Die Mehrheit davon waren Menschen mittleren Alters, gebildet (mehr als 80 Prozent Akademiker), ihr Einkommen war etwas höher als der Durchschnitt in Russland. Sie forderten Neuwahlen, Putins Rücktritt und demokratische Reformen.

"Ich war mir sicher, dass man uns nicht mehr ignorieren darf, dass sich jetzt alles ändern wird. Es war eine Euphorie, weil der Platz voller Menschen war und sie alle ,Putin ist ein Dieb' riefen", sagt Inna Karesina. Bei den Präsidentenwahlen im März wurde sie Wahlbeobachterin. Ausgerechnet in ihrer Stadt Koroljow gab es dreisteste Fälschungsfälle. Beobachter und Journalisten wurden verprügelt, ihre Kameras zerschlagen. Die Fälschungen konnte man nicht vor Gericht anfechten. Es wurde klar, dass es keine Neuwahlen geben wird. Danach kamen immer weniger Menschen auf die Straße. Als am 6. Mai, am Tag vor Putins Amtseinführung, einige Demonstranten Asphaltbrocken auf die Polizisten warfen und die Polizei mit noch größerer Gewalt antwortete, war Karesina zufällig nicht dabei. "Sonst wäre ich wahrscheinlich festgenommen worden. Ich kochte damals auch vor Wut und wollte, dass eine richtige Revolution ausbricht", sagt sie. Heute sieht sie keinen Revolutionsweg mehr für Russland.

Stattdessen stellt sie sich auf einen langen Weg der langsamen Veränderungen ein. Sie organisiert Wahlbeobachter in ihrer Stadt, und ihr nächstes Ziel ist nicht, das Regime zu stürzen, sondern, dass es in jeder lokalen Wahlkommission ein unabhängiges Mitglied gibt. "Diese langwierige, sorgfältige Arbeit ist langweilig, aber es gibt keinen anderen Weg", sagt sie. In Koroljow hat sie bereits genügend Mitstreiter gefunden. Die meisten kommen zu ihr, weil sie mit den Behörden unzufrieden sind.

Die Protestwelle vereinte Menschen mit unterschiedlichen Ansichten - mehr als ein Drittel bezeichneten sich als "demokratisch", etwa ein Drittel als "liberal" 13 bis 18 Prozent waren Kommunisten, sechs bis 14 Prozent Nationalisten. Dabei unterstützten nur 15 Prozent eine oppositionelle Partei. Künstler, Journalisten und Bürgeraktivisten waren im Winter populärer als Politiker. Dieses Misstrauen gegenüber dem klassischen Weg des politischen Kampfes wurde zur großen Schwäche der Protestbewegung. Die Anführer der Opposition sind immer noch zerstritten, und keiner hat eine konkrete Antwort auf die Frage, was weiter getan werden soll. Von den Teilnehmern der Proteste gaben viele auf.

Andere entschieden sich wie Inna Karesina für bürgerliches Engagement. Doch für wie lange ihre Energie ausreicht, weiß sie selbst nicht. Der Grund, warum sie trotzdem weitermacht, ist vor allem ihr Gewissen. "Es gibt keine Rechfertigung dafür, die Menschenwürde zu verlieren."