Ortstermin in der Grenzstadt Sderot: Die Einwohner haben 15 Sekunden, um sich zu schützen, wenn sie die Geschosse hören.

Sderot. Yami Schadadi sitzt im Garten vor ihrem Haus und schlenkert nervös mit den Beinen. Die 53-Jährige spricht, aber man hört sie kaum. Sie macht einen erschöpften Eindruck. Auf den ersten Blick passt diese unglücklich wirkende Frau nicht zum gepflegten Garten, über dem die Sonne und der makellos blaue November-Himmel strahlen. Laut Wetterbericht wird es trocken bleiben in Sderot, der südisraelischen Stadt, die dem Gazastreifen am nächsten liegt. Für Yami Schadadi ist das eine gute Nachricht. Denn das Dach des Hauses, vor dem sie sitzt, ist völlig zerstört. Ein Loch, groß wie ein Esstisch, klafft darin. Zwei Nächte zuvor hat eine Rakete aus dem Gazastreifen das Dach getroffen, bevor sie auf einem Feld explodiert ist.

Das Zimmer unterm Dach ist eine Trümmerwüste: Dachbalken hängen herunter, auf dem Boden liegen Holz- und Glassplitter. Mühsam sortiert Yamis Sohn Daniel Fotos in zwei Kisten. Auf die Bildschirme seiner Computer hat sich eine Schicht aus Schutt gelegt. "Ich habe jahrelang darauf gewartet, dass die Raketen kommen", sagt Yami. "Jeder im Ort wartet darauf, dass sie kommen."

Seit dem Einschlag hat Yami nicht viel geschlafen. Doch die Lehrerin denkt nicht daran wegzuziehen. "Vielleicht wenn die Kinder noch kleiner wären", sagt sie. Die Kinder sind alle volljährig. Eigentlich haben sie eigene Zimmer, aber seit dem Einschlag liegen ihre Matratzen nebeneinander im Erdgeschoss. Die Chance zu überleben ist im Erdgeschoss größer.

Sderot ist eine belagerte Stadt. Seit elf Jahren wird sie von radikalen Palästinensern aus dem Gazastreifen beschossen. Nicht jeden Tag, aber doch häufig genug. Sodass sich ihre etwa 20 000 Bewohner niemals sicher fühlen dürfen. Wie oft haben die Sirenen seitdem geheult? Niemand weiß es. Vielleicht 10 000-mal, vielleicht doppelt so oft. Wenn die Raketen aus Gaza kommen, das weniger als 1000 Meter entfernt liegt, bleiben den Menschen maximal 15 Sekunden. 15 Sekunden, in denen sie aus Toiletten, Duschen oder Autos hetzen müssen, um sich irgendwo möglichst klein zu machen oder in einen der Schutzräume zu rennen, die alle paar Meter wie steinerne Bushäuschen an den Straßen stehen. "Können Sie sich vorstellen wie beschissen das ist, wenn die eigene Tochter nackt aus der Dusche rennt, weil die Sirenen heulen?", fragt Aron Schuster. Er ist Bürgermeister der umliegenden Gemeinden. "Landkreis, verstehen Sie?", sagt er auf Deutsch.

Was motiviert ihn auszuharren, an einem Ort, auf den es Raketen regnet? "Meine Familie ist vor den Nazis aus Deutschland geflüchtet, über Argentinien, es war eine Odyssee. Für uns war Israel das Gelobte Land, ein sicherer Hafen. Wir werden nicht aufgeben." Seit Beginn der zweiten Intifada im Jahr 2000 ist das Leben in der Stadt nicht mehr dasselbe. Zwischen 2001 und 2009 sind 8700 Raketen aus Gaza in Sderot eingeschlagen. 13 Israelis starben in dieser Zeit, viele Häuser und Existenzen wurden zerstört. Etwa 3000 Menschen sind wegen des andauernden Terrors aus der Stadt geflüchtet. Nach einer Untersuchung aus dem Jahr 2007 sind drei Viertel der Bewohner dauerhaft traumatisiert.

Fühlt Schuster Hass gegen die Palästinenser? "Wut, klar, wäre ja gelogen wenn nicht. Ich wünsche mir Frieden. Aber man kann ihnen nicht vertrauen." Das denken viele in Sderot. Es gibt eine alarmierende Tendenz im gesamten Land, das belegen Umfragen: Die Israelis rücken nach rechts, radikalisieren sich, verlieren Verständnis und Mitgefühl für die Lage der Palästinenser.

Heute ist ein wichtiger Termin für Schuster: Israels Präsident Schimon Peres hat sich angekündigt, um in Sderot eine Schule zu besuchen. Nicht jedem Bewohner ist der hohe Gast willkommen: Sderot ist eine der schwächeren Städte des Landes, es gibt wenig Jobs und viel Armut. Viele sind überzeugt, dass die Regierung einen Beschuss Tel Avivs nie dulden würde.

Aber mit Sderot, einer gepeinigten Stadt ohne politischen Einfluss, könne man es ja machen. Als Peres dann kommt, dreht sich alles um die Raketen. Der Bürgermeister von Sderot, David Bouskila, ist da - und sogar Schlomo Mosche Amar, Israels Chefrabbiner, hält Hof. Schulkinder haben sich im Kreis aufgestellt und singen. Ihr Lied handelt davon, dass sie keine Raketen mehr wollen, sondern in Frieden leben.

Peres, von dem das Gerücht geht, er sei ob seiner 90 Jahre nicht mehr bei klarem Verstand, ist sichtlich bewegt. "Für mich sind diese Kinder wie meine eigenen, und ich fühle wie ein Vater", sagt er. Der Mann, der 2003 die Raketen noch als fliegende Pfeifen verharmloste und nicht gerade als Hardliner gilt, schickt an diesem Tag eine klare Warnung nach Gaza: "Wollt ihr Frieden, könnt ihr ihn haben. Wollt ihr töten, finden wir die richtige Antwort."

Die meisten Menschen in der Stadt können darüber nur lachen. "Peres lebt nicht hier, oder?", fragt die Studentin Lee Ben Waiss. Die 26-Jährige wirkt fröhlich, aber wenn man sie nach den Raketen fragt, verdüstert sich ihre Miene. "Man kann sich daran niemals gewöhnen, niemals. Wir haben immer Angst. Wer hier nicht lebt, wird nicht verstehen, wie sich der Alarm anfühlt." Warum ist sie überhaupt noch hier? "Ich will hier fertig studieren, dann weggehen. Es gibt keine Zukunft."

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Knobloch vermisst in Deutschland Empathie für Israel

Berlin/Tel Aviv. Charlotte Knobloch wählt starke Worte. Sie ist enttäuscht, sie mahnt. "Israel verteidigt als einzige Demokratie in der Region unsere gemeinsamen Werte und hat wie jeder souveräne Staat das Recht auf Selbstverteidigung", sagte die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Es sei "bedauerlich, wie wenig Verständnis in weiten Teilen der Bevölkerung und der Medien für die einzigartige geopolitische Situation Israels herrscht".

Im Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis hat die radikalislamische Hamas am Freitag Jerusalem und Tel Aviv mit Raketen beschossen. Die israelischen Streitkräfte griffen Stellungen der Hamas aus der Luft an. Wenige Wochen vor einer Parlamentswahl in Israel wird eine Bodenoffensive nicht mehr ausgeschlossen. Beide Seiten beschuldigten sich gegenseitig, die für den Besuch des ägyptischen Regierungschefs Hischam Kandil im Gazastreifen vereinbarte Waffenruhe gebrochen zu haben.

Knobloch verlangte, die internationale Staatengemeinschaft müsse "endlich entschlossen und wirkungsvoll gegen die Hamas und den Iran vorgehen, wenn Frieden im Nahen Osten eine Chance haben soll". Der deutsche Außenminister Guido Westerwelle (FDP) äußerte Verständnis für die militärische Reaktion Israels auf die Raketenangriffe aus dem Gazastreifen. Hamas sei eine Terrororganisation, "die mit durch nichts zu rechtfertigenden Angriffen diese Eskalation bewirkt hat", sagte er. Auch die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton forderte die Hamas zum Stopp des Beschusses auf. "Israel hat das Recht, seine Bevölkerung vor solchen Angriffen zu beschützen", sagte Ashton am Freitag in Brüssel.

Doch es gibt auf internationaler Bühne auch scharfe Kritik und Drohungen an Israel. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan will angesichts der Eskalation im Nahen Osten um mehr internationale Unterstützung für die Palästinenser werben. Die Türkei stehe an der Seite des Volkes in Gaza, zitierte die türkische Nachrichtenagentur Anadolu den Regierungschef. Erdogan wolle in der Sache noch am Freitag mit US-Präsident Barack Obama telefonieren. Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu bezeichnete das Vorgehen Israels als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit".

Die Eskalation gab dem Ölpreis Auftrieb. Ein Fass der europäischen Sorte Brent wurde um 0,8 Prozent höher bei knapp 109 Dollar gehandelt. "Das Wochenende wird einige Risiken für die Ölmärkte mit sich bringen", sagte Olivier Jakob von Petromatrix GmbH im schweizerischen Zug. "Wenn Ägypten die Hamas nicht davon abhalten kann, Raketen abzufeuern, dann wird der Konflikt definitiv eskalieren. Dabei steht ein großes Fragezeichen hinter der Reaktion der neuen Regierung Ägyptens."

Angriffe auch im Internet

Jerusalem/Berlin. Israel und die Hamas begleiten die Kämpfe im Gazastreifen mit einer bisher ungekannten Offensive im Internet. Über soziale Netzwerke berichten sie praktisch in Echtzeit über Raketenangriffe und Opferzahlen und ringen so um die öffentliche Meinung. Die israelischen Streitkräfte verkündeten die Offensive gar über das eigene Profil auf dem digitalen Kurznachrichtendienst Twitter. Man werde "eine groß angelegte Offensive" im Gazastreifen starten, hieß es dort.

Eine weitere Twitternachricht empfahl allen Hamas-Führern, "ihre Gesichter in den nächsten Tagen nicht bei Tageslicht zu zeigen". Die direkte Antwort der Hamas folgte prompt. "Unsere gesegneten Hände werden eure Anführer und Soldaten greifen, egal wo sie sind. Ihr habt die Tore der Hölle selbst aufgestoßen", hieß es von einem Profil unter dem Namen Al-Qassam-Brigade, das als offizielle Twitterpräsenz des militärischen Flügels der Hamas gilt.

Twitter habe sich seit dem letzten Krieg vor vier Jahren zu "einer zusätzlichen Kriegszone" entwickelt, sagte eine Sprecherin des israelischen Militärs. Über die sozialen Netzwerke könne Israel Informationen an den Medien vorbei direkt ins Netz geben. Seit zwei Monaten unterhält die Armee eine eigene Abteilung für interaktive Medien mit 30 Soldaten.

Der erbitterte Streit im Internet beschränkt sich nicht auf Twitter. Die Hamas unterhält eine Facebook-Seite und eine mehrsprachige Website. Die israelische Armee verfügt über Profile auf Facebook, dem Fotodienst Flickr und der Videoplattform YouTube. Die dortigen Einträge wie Bilder oder Videos sind darauf ausgelegt, dass andere Menschen sie aufgreifen und weiterverbreiten. Ein Bild des getöteten Hamas-Militärchefs Ahmed Dschabari mit dem aufgestempelten Wort "ausgeschaltet" auf der Facebook-Seite der Armee wurde fast 7000-mal weitergegeben, doch stieß auch auf Kritik.

Beide Seiten betreiben im Internet eine fortwährende Bestandsaufnahme der Offensive, zählen Raketeneinschläge und Luftangriffe, verbreiten grausige Fotos verletzter oder getöteter Kinder. Ein Video des israelischen Militärs, das den tödlichen Angriff auf Dschabari zeigt, wurde von Googles Videoplattform YouTube am Donnerstag kurzzeitig entfernt. Das schwarz-weiße Video zeigte ein fahrendes Auto, das kurz darauf in einem Feuerball explodiert. Google-Sprecherin Mounira Latrache sagte, dass "alles, was gewaltverherrlichend oder verletzend ist", gegen die Richtlinien von YouTube verstoße.

Wenn YouTube auf solche Inhalte aufmerksam gemacht werde, würden sie geprüft und gegebenenfalls entfernt. Später revidierte Google die Entscheidung. Aufgrund der Menge an Material treffe man manchmal Fehlentscheidungen. Das Video wurde bisher fast 1,4 Millionen Mal angesehen.

Mit der Präsenz auf allen Kanälen versuchen Israel und die Hamas, die Öffentlichkeit auf ihre Seite zu ziehen. Sie verstünden, "dass man solche Konflikte über die öffentliche Meinung gewinnt", sagte Tamir Sheafer, der an der Hebräischen Universität Jerusalem lehrt. Gleichzeitig berge das aggressive Werben im sozialen Netz Stolperfallen, sagte Natan Sachs, ein Experte der Washingtoner Brookings Institution. Andere Nutzer könnten direkt auf die Nachrichten reagieren, teilweise mit sarkastischen Bemerkungen.

"Sie könnten sich in Bezug auf ihre PR in falscher Sicherheit wiegen", sagte Sachs mit Blick auf die israelische Armee. "Am Ende des Tages zählen ihre politischen Entscheidungen und nicht ihre Twitternachrichten."