Die Regierung Erdogan lässt sich vom türkischen Parlament eine Erlaubnis für eine umfassende Militärkampagne gegen Syrien geben

Istanbul/Brüssel. Die Türkei erwägt keine Kriegserklärung gegen Syrien" - mit diesen Worten wurde ein Berater des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, Ibrahim Kalin, in den türkischen Medien zitiert. Die Worte, die wohl beruhigen sollten, waren indes geeignet, die Sorgen im Volk zu erhöhen. Denn um eine solche Option zu dementieren, muss sie überhaupt erst einmal denkbar sein. Das ist der Fall, seit Artilleriegranaten von beiden Seiten über die türkisch-syrische Grenze fliegen. Am Mittwoch starben fünf Zivilisten in einem türkischen Grenzdorf, als dort Mörsergranaten einschlugen, die von der syrischen Seite kamen. Zum ersten Mal überhaupt waren damit türkische Staatsbürger auf türkischem Boden im Syrien-Konflikt ums Leben gekommen.

Ob es nun Regierungstruppen waren, die im Grenzgebiet auf syrische Rebellen zielten, oder Rebellen, die vielleicht einen politischen Eklat provozieren und die Türkei so in einen Krieg hineinziehen wollten, ist bislang unklar. Nur wenige Tage zuvor hatten die Türkei und Qatar beschlossen, ihre Unterstützung für die sehr heterogenen syrischen Rebellen zu halbieren, bis diese sich zur Bildung einer zentralen politischen und militärischen Führung durchringen.

Die syrische Regierung hat eine "Untersuchung" des Vorfalls angekündigt und ihr Beileid bezüglich der türkischen Todesopfer erklärt, nicht jedoch bestätigt, dass der Beschuss tatsächlich von syrischen Militäreinheiten kam. Stattdessen verwies sie darauf, dass auch "unkontrollierbare Terrorgruppen" - also Verbände der diversen Rebellenorganisationen - in der Region agieren. Nichtsdestotrotz feuerte türkische Artillerie noch am Mittwoch auf syrische Militärposten, wobei mehrere syrische Soldaten starben; der türkische Beschuss setzte dann am nächsten Morgen gegen fünf Uhr Ortszeit wieder ein, ohne das zunächst eine syrische Gegenwehr gemeldet wurde.

Politisch wurde die Angelegenheit auf der türkischen Seite von der ersten Minute an als oberste Chefsache gehandhabt. Die Nachricht vom Beschuss kam nicht über die Medien oder das Militär an die Öffentlichkeit, sondern direkt vom Amt des Ministerpräsidenten. Zeitgleich und perfekt abgestimmt ergingen Gesuche an die Nato und die Vereinten Nationen, das Thema zu diskutieren und Syrien zu verurteilen.

Kurz nach 17 Uhr gingen am Mittwoch im Nato-Hauptquartier in Brüssel die ersten Meldungen über den Angriff von syrischer Seite ein. Die türkische Delegation in Brüssel bat sofort um ein Treffen des Nato-Rats. Um 21.30 Uhr traten die Botschafter der 28 Mitgliedsländer zusammen. Die Atmosphäre sei angespannt, aber sehr ruhig gewesen, heißt es. Nur eine knappe Stunde saß man zusammen. Die Erklärung, die der Nato-Rat dann ausgab, ist eindeutig. "Die Allianz steht weiter zur Türkei", Syrien müsse umgehend die Verletzungen des internationalen Rechts beenden. Damit setzte die Nato, ganz wie von Ankara gewünscht, ein starkes politisches Zeichen. Von militärischer Intervention ist jedoch keine Rede, in Brüssel will man abwarten, wie sich die Lage entwickelt. Bundesaußenminister Guido Westerwelle hat beide Länder zu Besonnenheit aufgerufen. Es müsse alles für eine Deeskalation getan werden, damit aus dem innersyrischen Konflikt kein Flächenbrand in der Region entstehe. Zugleich versicherte er: "Wir stehen an der Seite der Türkei."

Derweil genehmigte das Parlament in Ankara gestern grenzübergreifende Militäraktionen. Der Entwurf dazu war noch in der Nacht dem Kabinett vorgelegt und abgesegnet worden. Was eine solche Vereinbarung bedeuten kann, ist in den vergangenen Jahren schon mehrfach im Nordirak deutlich geworden: Es kam wiederholt zu massiven, mehrwöchigen türkischen Vorstößen ins Nachbarland - mit Luft- und Bodenkräften. Diese Operationen waren gegen die vom Nordirak aus operierende kurdische Terrororganisation PKK gerichtet gewesen. Auch der jetzige Beschluss könnte in den nächsten Monaten anstatt zu einer Intervention gegen das Assad-Regime zu ganz anderen Szenarien führen - nämlich zu einer Offensive gegen syrische Kurden. Die türkische Regierung hat wiederholt erklärt, sie wolle die Entstehung eines separaten Kurdengebietes in Syrien nicht dulden. Im Norden Syriens werden kurdische Gebiete von kurdischen Einheiten kontrolliert, die syrische Armee hat sich von dort zurückgezogen. Auch rund 1500 PKK-Kämpfer aus dem Nordirak stießen im Juni zu den örtlichen Kurdenmilizen.

Gerade deswegen - weil der türkische Parlamentsbeschluss zu generell und unbegrenzt sei - stimmten die Oppositionsparteien CHP und MHP gegen die Vorlage und bezeichneten sie vollmundig als "Kriegserklärung". Von der Regierung wurde das dementiert. "Dieser Text enthält keinerlei Begrenzungen", kritisierte CHP-Politiker Muharrem Ince. "Mit diesem Text kann man einen dritten Weltkrieg anzetteln. Es ist darin die Rede davon, dass das Militär in andere Länder einmarschieren kann. Diese werden aber nicht genannt. Welche sind diese Länder?"

Der stellvertretende AKP-Fraktionschef Nurettin Canikli warf der CHP vor, zum Feind der Türkei zu werden. "Mit wem seid ihr? Mit der Türkei, oder mit dem grausamen Assad?", fragte er rhetorisch. Es scheint jedenfalls vorerst so, dass es zunächst bei einer begrenzten Reaktion bleiben wird. "Alle militärischen Ziele sind von unseren Granaten getroffen worden", sagte AKP-Parlamentarier Yalcin Akdogan. Die weitere Entwicklung hänge nun von der Reaktion der syrischen Seite ab.

Laut Medienberichten hatten die türkischen Streitkräfte für den Beschuss syrischer Stellungen südkoreanische Haubitzen vom Typ "K 9" verwendet, die die Türkei seit etwa acht Jahren in leicht vereinfachter Form unter Lizenz herstellt. Die Haubitzen waren an die Grenze verlegt worden, nachdem am 22. Juni ein türkisches Kampfflugzeug vor der syrischen Küste abgeschossen worden war. Schon damals hatte die Türkei mit einem militärischen Gegenschlag gedroht, und ihre Truppen entlang der Grenze verstärkt.

In der Sache des abgeschossenen Flugzeuges meldete sich jetzt ein Sprecher der "Freien Syrischen Armee" im arabischen TV-Sender Al-Arabija zu Wort. Nicht Syrien habe das Flugzeug abgeschossen, sondern Einheiten eines dort befindlichen russischen Stützpunktes. Ausdrücklich nahm der FSA-"General" namens Abdülhamit Ömer die syrischen Truppen in Schutz, "obwohl ich zur Opposition gehöre".

Es ist bereits der zweite "Enthüllungsbericht" des Senders zum umstrittenen Flugzeugabschuss, der Russland belastet - in einem ersten Beitrag vor einigen Tagen hatte es geheißen, die beiden türkischen Piloten seien lebend geborgen, aber auf russische Anweisung von den Syrern umgebracht worden. Diese Darstellung ist von Russland und Syrien dementiert, und von der Türkei stark angezweifelt worden. Syrien hatte damals außerdem offiziell eingeräumt, dass seine Einheiten für den Abschuss verantwortlich gewesen seien.

Ob die jüngsten Entwicklungen eine Internationalisierung des Syrienkonflikts wahrscheinlicher machen, bleibt anzuwarten. Innenpolitisch wäre es eine für Ankara hochriskante Entscheidung. Ein Krieg, dessen Ende und dessen Folgen nicht kalkulierbar wären, würde die Regierung viel Unterstützung bei den Wählern kosten - denn den jüngsten Umfragen zufolge ist eine überwältigende Mehrheit der Türken gegen ein Militärabenteuer im Nachbarland. Noch gestern Abend wurde eine erste Antikriegsdemonstration in Istanbul angekündigt.