Trotz der Eskalation in Syrien verhält sich die Türkei bislang verantwortungsbewusst

Die Türkei unter der Führung ihres machtbewussten Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan hat sich in den vergangenen Monaten als unverzichtbarer und konstruktiver Faktor in der Handhabung der syrischen Krise erwiesen. Mehr als 100 000 Syrer, die vor den Kämpfen sowie dem menschenverachtend agierenden Regime von Staatschef Baschar al-Assad geflohen sind, haben in türkischen Lagern Zuflucht gefunden. Diese Leistung der Türkei ist nicht nur unter humanitären, sondern auch unter sicherheitspolitischen Aspekten kaum zu überschätzen.

Mit den Artillerieangriffen des türkischen auf das syrische Militär ist nun allerdings eine neue Eskalationsstufe in diesem gefährlichen Konflikt erreicht. Und es liegt nun auch bei Erdogan, ob die Türkei künftig Öl auf die Wogen oder ins Feuer gießen wird. Es besteht kaum ein Zweifel, dass die türkische Regierung das Recht hat, militärisch auf einen grenzüberschreitenden Angriff der Syrer mit Todesopfern auf türkischer Seite zu reagieren. Erdogan hat dankenswerterweise bereits erklärt, dass Ankara nicht an einem Krieg interessiert ist. Das ist ihm sogar zu glauben.

Im Syrien-Konflikt sind für den neuen Sultan zwei massive Interessen berührt. Zum einen, ganz aktuell, die territoriale Integrität der Türkei. Sie ist geradezu ein heiliges Gut; seitdem das einst gigantische Osmanische Reich nach dem Ersten Weltkrieg entsprechend dem Vertrag von Sevres 1920 auf das Gebiet der heutigen Türkei verkleinert wurde, reagieren vor allem türkische Nationalisten sehr offensiv auf Bedrohungen. Mit diesem Trauma hängt auch die über Jahrzehnte aggressive Kurden-Politik Ankaras zusammen - der Vertrag, der Armeniern und Griechen osmanisches Gebiet zusprach, hatte auch den Kurden einen unabhängigen Staat in Aussicht gestellt. Ein türkischer Regierungschef, der auf eine eklatante Verletzung des türkischen Territoriums nicht entschieden reagiert, bekommt daheim ein Problem.

Zum anderen ist die großtürkische Vision unter dem gemäßigten Islamisten Erdogan noch viel ausgeprägter als unter der Fuchtel des Militärs in früheren Jahren. Erdogan sieht die Türkei wieder als Vormacht im Nahen und Mittleren Osten. Das ebenfalls sunnitische Ägypten stört ihn als Rivalen dabei weniger als der schiitisch/alawitische Machtblock aus Iran und Syrien. Erdogan ist auch deshalb an einem Sturz des Assad-Regimes interessiert, weil die Assad-Familie zur Minderheit der Alawiten zählt - eine sunnitische und der Türkei gewogene Regierung in Damaskus würde den Einfluss des Irans stark schwächen.

Einen veritablen Krieg mit Irans Verbündetem Syrien mitten in der bedrohlich schwelenden israelisch-iranischen Atomkrise ausbrechen zu lassen dürfte Erdogan kaum für sehr klug halten. Hinzu kommt, dass die türkische Bevölkerung mehrheitlich überhaupt keine Lust auf ein solches Abenteuer mit ungewissem Ausgang hat. Ein Krieg würde auch den enormen wirtschaftlichen Aufschwung in der Türkei brutal abwürgen.

Auch die Nato, der die Türkei angehört, sieht momentan keinerlei Anlass, den gefürchteten Artikel 5 des Nato-Vertrages und damit den kollektiven Bündnisfall auszurufen. Die eiligen Brüsseler Beratungen nach Artikel 4 sollten den Syrern Warnung genug sein. Und im Grunde braucht Erdogan nur weiter die syrischen Rebellen zu unterstützen, bis Assad eines Tages auch ohne Intervention fällt.

Die Krise um Syrien steht nach den Artillerieduellen am Scheideweg. Bislang sieht es ganz danach aus, als würden Erdogan, Assad und auch die Nato den Pfad der weiteren Eskalation unbedingt vermeiden wollen. Auf jeden Fall gibt es in diesem Konflikt außer dem Iran noch eine weitere Partei, die eine erbärmliche Rolle als Förderer des Assad-Regimes spielt: das Russland des Zaren Putin.