Viele Uiguren empfinden die Chinesen als Besatzer. Diffuser Unmut, nationale Feindseligkeiten und soziale Spannungen sind nun zum Ausbruch gekommen.

Peking. Urumqi, die uigurische Hauptstadt der autonomen Nordwestregion Xinjiang, wirkt trotz ihrer vielen Moscheen wie eine typische chinesische Provinzmetropole. Ihre überdimensionalen Plätze, Einkaufszentren und Straßen sind nach Pekinger Vorbild gebaut. Nur ein Viertel der etwa 2,6 Millionen Einwohner der Stadt sind Angehörige islamischer Minderheiten, vor allem Uiguren - ein Turkvolk. Die Mehrheit der Menschen in Urumqi sind Han, also ethnische Chinesen, die rund 90 Prozent der chinesischen Gesamtbevölkerung stellen. Normalerweise ist Urumqi eine friedliche Stadt.

Normalerweise. Um 17 Uhr Ortszeit trafen sich am Sonntag auf dem Volksplatz in Urumqi knapp 200 Menschen. So schätzte die halbamtliche Nachrichtenagentur "Xinwenshe", die freier als die offizielle "Xinhua" berichten darf. Vorwiegend Uiguren hatten sich über das Internet zum zivilen Protest durch Sitzstreik verabredet. Sie demonstrierten gegen die Behandlung von Landsleuten in Shaoguan, einer südchinesischen Stadt bei Kanton. Dort beschäftigte ein Hongkonger Fabrikant in seiner Spielzeugfabrik unter Tausenden Mitarbeitern auch 800 uigurische Wanderarbeiter. Ein chinesischer Arbeiter, der keinen Job in der Fabrik gefunden hatte, verbreitete aus Wut im Internet ein Gerücht: Sechs Uiguren hätten zwei chinesische Arbeiterinnen vergewaltigt. Der Aufruhr entlud sich am 26. Juni in einer Massenschlägerei mit 120 Verletzten. Zwei Uiguren starben. Die Nachricht der zögerlichen Aufklärung pflanzte sich bis Urumqi fort. Auch die Festnahme des Gerüchtestreuers konnte nicht beruhigen.

Der Protest in Urumqi verlief friedlich, bis die Polizei 70 Demonstranten "mit Gewalt" abführen ließ, um die Spontandemonstration aufzulösen. Zuschauer und weitere Demonstranten wichen in andere Stadtteile aus. In die enge Shanxi-Gasse, wo viele Angehörige religiöser und ethnischer Minderheiten wohnen, drängten zwei Stunden später mehr als 1000 Menschen. An der Volksstraße Renminlu und dem Südtor blockierten sie Zugänge. Nach acht Uhr abends kam es zu ersten Ausschreitungen. Nun radikalisierte sich die Szene mit dem Pöbel an Frustrierten, Arbeitslosen und Mitläufern, wie sie in jeder chinesischen Großstadt in der derzeitigen Arbeits- und Wirtschaftskrise herumlungern. Um halb neun wurden erste Passanten zusammengeschlagen. Der diffuse Volkszorn richtete sich vor allem gegen Chinesen und politisierte sich. Um neun Uhr, wo es nach Xinjiang-Zeit noch hell ist, versuchten 200 Uiguren den Sitz der autonomen Regierung zu stürmen. Am Ende musste die Polizei 10 000 Mann gegen die Randalierer aufbieten, um die Straßen zu befrieden.

So weit decken sich offizielle Beschreibungen mit Augenzeugenberichten. Unbekannt ist, was nach 22 Uhr geschehen ist. Vor allem, wie es zu mindestens 156 Toten und 828 teilweise schwer Verletzten bei den seit Jahrzehnten schwersten ethnischen Unruhen in China kommen konnte. Für Präsident Wang Faxing vom "Volkshospital" waren es vor allem anti-chinesische Ausschreitungen. Montagnacht sagte er, dass sein Krankenhaus 291 Opfer aufnahm, von denen 17 ihren Verletzungen erlagen. 233 der Eingelieferten seien Han-Chinesen, der Rest Uiguren. Reporter berichteten, dass Uiguren mit Hackmessern, Holzlatten und Ziegelsteinen auf Chinesen Jagd gemacht hatten, die als verhasste Besatzer angesehen werden.

Nach 90 geflohenen "Rädelsführern" wird gefahndet. Die Provinzregierung ließ Handyfrequenzen und Internetserver blockieren. Die ersten Fotos, die nach Peking gelangten, zeigten Szenen, wie sie Chinas Fernsehen einst auch vom tibetischen Lhasa im März übermittelt hatte. Zertrümmerte Schaufenster, in Brand gesetzte Hotels und Busse, blutende Menschen. In Urumqi wurden 203 Geschäfte geplündert und zerstört.

Die Ähnlichkeit mit Tibets Ereignissen ist augenscheinlich. In stündlichen Ansprachen im Fernsehen zeigt Provinzregierungschef Nur Bekri, dass er vom Parteichef in Tibet, Zhang Qingli, gelernt hatte. Der hatte im März noch am Tag der Unruhen dem Dalai Lama alle Schuld zugewiesen. Bekri nannte nun als Hintermänner die im Exil lebenden Uiguren, besonders den in München beheimateten uigurischen Weltkongress und seine Präsidentin, die im US-Exil lebende Rebiya Kadeer. Hinter dem Aufruhr steckten die "drei Kräfte des Terrorismus, Separatismus und Extremismus", die aus Xinjiang einen eigenen Staat Ostturkistan machen wollten. Es gehe um die Einheit der Nation.