In Moskau gingen erneut Zehntausende Kreml-Gegner auf die Straße. Michail Gorbatschow forderte Wladimir Putin auf, zurückzutreten.

Moskau. Zehntausende Menschen haben am Sonnabend in Moskau und anderen Städten Russlands in Massenprotesten gegen den mutmaßlichen Wahlbetrug in Russland demonstriert. Die Demonstrationen der Kreml-Gegner auf einer weitläufigen Allee im Zentrum der russischen Haupstadt standen unter strenger Kontrolle der Polizei. Die Zahl der Teilnehmer war bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt noch höher als vor zwei Wochen, als es bereits zu den umfassendsten Protesten in Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gekommen war.

Am Rande der Demonstrationen in Moskau forderte der frühere sowjetische Präsident Michail Gorbatschow den russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin auf, seinem Beispiel zu folgen und ebenfalls zurückzutreten. Gäbe Putin das Amt jetzt ab, würde er für das Positive in seiner zwölfjährigen Zeit an der Macht in Erinnerung bleiben, erklärte Gorbatschow im Rundfunksender Echo Moskau. "Ich bin froh, dass ich noch erleben durfte, wie die Menschen aufwachen“, sagte der 80-Jährige, der vor genau 20 Jahren als letzter sowjetischer Staatschef zurückgetreten war. "Da lässt viel hoffen.“

Seiner Forderung nach Putins Rücktritt schlossen sich auch die Demonstranten an. "Russland ohne Putin“, wurde am Sonnabend in Sprechchören gerufen. Auf Plakaten waren Parolen wie "Diese Wahl ist eine Farce“ und "Russland wird frei sein“ zu lesen. Die Sicherheitskräfte umstellten die Demonstranten und hielten sie mit Metallzäunen zusammen. In der Luft kreiste ein Polizeihubschrauber. Über Zusammenstöße oder Festnahmen wurde zunächst jedoch nicht berichtet. Nach Angaben der Polizei nahmen 30.000 Personen an der Demonstration in Moskau teil, laut Veranstaltern waren es 120.000. Auch in Dutzenden anderen Städten des Landes gab es Kundgebungen.

Zahlreiche Redner meldeten sich bei der Kundgebung zu Wort. Der Anti-Korruptionsanwalt und populäre Blogger Alexej Nawalni animierte die Menge zu dem Ruf "Wir sind die Macht!“. Der frühere Schachweltmeister Garry Kasparow rief den Demonstranten zu: "Wir sind hier so viele, und sie (die Regierung) sind wenige.“

Der frühere Finanzminister Alexej Kudrin forderte auf der Kundgebung überraschend, das Parlament solle die von Präsident Dmitri Medwedew angekündigten Wahlrechtsreformen billigen und dann zurücktreten, um eine Neuwahl zu ermöglichen. Eigentlich sollen die Reformen erst in mehreren Jahren Anwendung finden. Kudrin, der Putin weiterhin nahesteht, rief nach einem Dialog zwischen Opposition und Regierung. "Andernfalls werden wir die Chance auf einen friedlichen Übergang verlieren“, sagte er.

Die Proteste richteten sich erneut vor allem gegen Ministerpräsident Putin, der sich im März wieder als Präsident zur Wahl stellen will. Eine Reaktion Putins auf die Großkundgebung vom Sonnabend gab es zunächst nicht. Das vom Kreml kontrollierte Fernsehen berichtete über die Proteste, die schärfsten Kritiker des Ministerpräsidenten kamen jedoch in den Beiträgen nicht zu Wort.

Nach der umstrittenen Parlamentswahl am 4. Dezember hatten immer wieder Demonstranten gegen das nach ihrer Auffassung gefälschte Ergebnis protestiert. Die Regierungspartei Einiges Russland hatte bei der Wahl zwar schwere Verluste hinnehmen müssen, nach offiziellem Ergebnis aber noch immer eine deutliche Mehrheit erzielt.

+++ Wandel in Russland? Medwedew verspricht Reformen +++

"Wir vertrauen ihm nicht“, sagte der Oppositionsführer Boris Nemzow am Samstag und forderte die Demonstranten in Moskau auf, sich im kommenden Monat erneut zu versammeln, damit der Druck auf Putin nicht nachlasse. Bei der Präsidentenwahl im März müsse ihm dann die Macht entzogen werden. "Ein Dieb darf nicht im Kreml sitzen“, sagte Nemzow weiter.

Der Kolumnist und Satiriker Viktor Schenderowitsch erklärte, niemand habe mehr getan, um so viele Menschen auf die Straße zu bringen, wie Putin, "der es geschafft hat, das ganze Land zu beleidigen“.

"Die Menschen sind hergekommen, weil sie Respekt wollen“, sagte die 54-jährige Tamara Woronina, die nach eigenen Angaben gemeinsam mit ihren drei Söhnen gekommen war. Putin hatte die Demonstranten zuletzt wiederholt zu diskreditieren versucht. Sie seien als Handlanger des Westens von den USA aufgehetzt worden, und die von ihnen als Symbol getragenen weißen Bändchen ähnelten Kondomen, sagte der Ministerpräsident.

Bei der Kundgebung am Sonnabend nahmen viele Menschen bewusst Bezug auf die Kommentare Putins. Der Journalist Artyomi Troitski trug einen Umhang in Form eines Kondoms. "Wir können eine solch offen gezeigte Verachtung gegenüber dem Volk, gegenüber der gesamten Nation, nicht zulassen“, sagte Troitski. Andere Teilnehmer der Kundgebung hielten Fotomontagen, auf denen der Ministerpräsident mit einem über den Kopf gestülpten Kondom zu sehen war.

Die präsidiale Menschenrechtskommission verurteilte am Samstagmorgen ebenfalls Verstöße bei der Parlamentswahl und forderte die Entlassung des Leiters der Wahlkommission, Wladimir Tschurow. Die Vorwürfe weitverbreiteten Wahlbetrugs hätten zu einer "moralischen und politischen Diskreditierung des Wahlsystems und des Unterhauses“ geführt. Dies stelle eine echte Bedrohung für den russischen Staat dar.

Von Jim Heintz und Nataliya Vasilyeva

Ex-Finanzminister Kudrin bietet sich als Vermittler an

Kudrin, der nach einem Streit von Präsident Dmitri Medwedew im September entlassen worden war, schrieb in einem offenen Brief an die Demonstranten: „Ich teile Ihre negativen Gefühle in Bezug auf die Ergebnisse der Parlamentswahl in unserem Land.“ Es müsse nun einen Dialog zwischen Regierung und Gesellschaft geben, um einen friedlichen Wandel zu ermöglichen und einen gewaltsamen Umsturz zu verhindern, mahnte Kudrin in dem Schreiben, das die Zeitung „Kommersant“ veröffentlichte. Zugleich bot sich Kudrin, den Putin selbst als engen Vertrauten bezeichnet, als Vermittler an, um einen Weg für Reformen auszuloten.

Eine Reform des Wahlrechts hat bereits Präsident Medwedew versprochen, der für Ministerpräsident Putin Platz machen und mit ihm das Amt tauschen soll. Doch die Opposition pocht auf eine Wiederholung der Parlamentswahl, bei der Putins Partei „Einiges Russland“ am 4. Dezember eine knappe Mehrheit erreicht hatte. Die Opposition wirft den Behörden vor, die Wahl zugunsten Putins Partei gefälscht zu haben. Sie will, dass sich der 59-jährige Putin, der bei der Präsidentenwahl im März abermals Staatsoberhaupt werden will, aus der Politik zurückzieht.

Es ist bereits die zweite Großkundgebung gegen Putins Regierung innerhalb von 14 Tagen. An der ersten Demonstration am 10. Dezember hatten nach Angaben von Augenzeugen etwa 50.000 Menschen teilgenommen. Es sind die größten Proteste gegen die Regierung seit mehr als zwölf Jahren.

(abendblatt.de/dapd/rtr)