Havel stand wie kein Zweiter für historischen Umwälzungen in Europa. Der Schriftsteller, Dissident und Präsident ist zeitlebens unbequem geblieben.

Nur ganz selten in der europäischen Nachkriegsgeschichte haben sich Geist und Macht, intellektueller Anspruch und politischer Gestaltungswille auf so glückliche Weise in einer Person vereint wie bei Vaclav Havel, dem großen tschechischen Dramatiker, der zum Bürgerrechtler wurde und der sein Land schließlich als Präsident in die Demokratie geführt hat. Am gestrigen Morgen ist Havel auf seinem Landgut im nordböhmischen Hradecek im Alter von 75 Jahren gestorben. Er erlag einer schweren Lungenerkrankung.

Noch vor wenigen Tagen hatte Havel den Appell einiger Friedensnobelpreisträger unterzeichnet, die die sofortige Freilassung des chinesischen Bürgerrechtlers Liu Xiaobo forderten. Zu den letzten Texten, die Havel in den vergangenen Monaten noch schrieb, gehörten Kondolenzbriefe an die Angehörigen enger Freunde und Weggefährten, die ihm vorangegangen waren: Am 28. Oktober war der ehemalige Dissident, Dichter und Diplomat Jiri Grusa gestorben, am 10. November der Lyriker Ivan Martin Jirous.

Doch kein anderer Dissident, kein tschechischer Künstler und Oppositioneller verkörperte mit seinem Schreiben und Reden, seiner Kunst und seinem Handeln den Widerstand gegen die kommunistische Diktatur so sinnfällig und stark wie Vaclav Havel, den sich die Prager Machthaber als Großbürgersohn schon aus ideologischen Gründen zum Feind gemacht hatten.

Für das Kind einer einflussreichen Unternehmerfamilie, zu deren Besitz auch die berühmten Filmstudios von Barrandov gehört hatten, war in der Elite der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik kein Platz. Da er zum Abitur nicht zugelassen wurde, arbeitete er als Chemielaborant und holte den Bildungsabschluss in der Abendschule nach. Das Geld verdiente er als Taxifahrer und mit Gelegenheitsjobs. Auch zur geisteswissenschaftlichen Fakultät der berühmten Prager Karls-Universität wurde er aufgrund seiner sozialen Herkunft nicht zugelassen, konnte aber 1954 ein Studium der Ökonomie beginnen. Da ihn die dort gelehrte marxistische Scholastik langweilte, brach er nach zwei Jahren ab und begann Prags vielleicht erstaunlichste Theaterkarriere. Innerhalb weniger Jahre brachte er es vom Bühnentechniker und Beleuchter zum gefeierten Hausautor des renommierten Theaters am Geländer.

Schon als 20-Jähriger hatte Havel begonnen, nicht nur Artikel für Literaturzeitschriften und Theaterkritiken zu schreiben, sondern auch Dramen. Sicher war es ein Glücksfall, dass das kulturpolitische Klima Anfang der 1960er-Jahre der CSSR im Vergleich zu anderen Ostblockstaaten relativ liberal war. So konnte Havel mit Stücken, die von Samuel Beckett, Eugène Ionesco und anderen Autoren des Absurden Theaters beeinflusst waren, ein Publikum erobern, das dank der Erfahrungen im realsozialistischen Alltag ein feines Gespür für Absurdität besaß. Und das außerdem gewohnt war, literarische Texte stets mit Blick auf deren subversive Botschaften zu lesen und zu hören. Mit Stücken wie "Das Gartenfest" (1963) und "Das Memorandum" (1965) machte sich Havel, der zumindest als Fernstudent doch noch an die Theaterfakultät aufgenommen wurde, einen Namen.

Havel hat sich immer als politischer Autor verstanden. Anders als zum Beispiel die meisten kritischen DDR-Intellektuellen misstraute er der kommunistischen Heilslehre von vornherein. Mochten ihn die Machthaber auf dem Prager Hradschin zunächst noch als aufmüpfigen, aber letztlich harmlosen Künstler gesehen haben, änderte sich das mit seinem Auftritt vor dem IV. Schriftstellerkongress in Prag. Dort forderte er 1967 mit Formulierungen, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen, nicht nur die Abschaffung der Zensur, sondern auch des Machtmonopols der KP. Damit sah die Partei die Machtfrage gestellt, doch zugleich begann das alte stalinistische System unter Präsident Antonin Nowotny zu bröckeln. Mit Alexander Dubcek folgte ein Reformkommunist, der das Experiment eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz wagen wollte.

Als die Panzer der Sowjetunion und anderer Ostblockstaaten den "Prager Frühling" im August 1968 niederwalzten, geriet auch Vaclav Havel ins Visier der orthodoxen Kommunisten, die jetzt gnadenlos ihre "Normalisierungspolitik" betrieben. Prag sei die Stadt mit den intelligentesten Straßenbahnfahrern, witzelten die Tschechen Anfang der 70er-Jahre bitter. Unangepasste Philosophieprofessoren, Theaterdirektoren und Chefredakteure fanden nur noch als Busfahrer, Müllmänner oder Hilfsarbeiter ihr Auskommen. Havel wurde dreimal verhaftet und verbrachte insgesamt mehr als fünf Jahre in Gefängnissen. In der CSSR schwieg man ihn tot, aber im Westen wurden seine Stücke publiziert und gespielt. Wenn der Schriftsteller Stefan Heym für sich in Anspruch nahm, die "bekannteste Unperson der DDR" zu sein, fiel diese Rolle in der Tschechoslowakei ohne Zweifel neben dem kaltgestellten Alexander Dubcek vor allem Vaclav Havel zu.

Wie hält man das durch, ohne zu resignieren oder zu emigrieren? Und ohne zu wissen, wie viele Jahrzehnte die Macht der Kommunisten noch halten wird? Havel ist in Prag geblieben, hat sich weder arrangiert noch sich in die "innere Emigration" zurückgezogen.

Er hat nicht nur an die Kraft der Gedanken geglaubt und daran, dass die Freiheit sich letztlich nicht aufhalten lassen wird. Er hat auch allen Umtrieben der Staatssicherheit zum Trotz Vertrauen in Menschen gesetzt, zum Beispiel in seine erste Frau Olga, an die er seine in Gefängnis geschriebenen und später publizierten "Briefe an Olga" richtete. Und er hat jenen Freunden vertraut, mit denen er 1977 eine Petition verfasste, die unter dem Namen "Charta 77" europäische Geschichte schreiben sollte. Am 1. Januar 1977 ging der Prager Führung und Medien in Ost und West die Protesterklärung zu, in der neben dem Recht auf freie Meinungsäußerung auch ein Recht auf "Freiheit vor Furcht" gefordert wird.

Was nun folgte, wirkte selbst wie ein Stück aus dem Absurden Theater. Die Prager Führung veröffentlichte die Charta natürlich nicht, startete aber am 12. Januar 1977 eine Gegenkampagne, in der sie die Chartisten diffamierte. Fast unmerklich begann die Allmacht des Staates zu erodieren, obwohl sich die Partei alle Mühe gab, alles zu kontrollieren. Mundtot machen konnte man die Kritiker nicht.

Am 16. Januar 1989, auf den Tag genau 20 Jahre nachdem sich der Student Jan Palach vor dem Prager Nationalmuseum verbrannt hatte, organisierten Havel und seine Freunde eine Gedenkveranstaltung. Die Staatssicherheit verhaftete den Dichter, der längst zur weltweit bekannten Symbolfigur der "Charta 77" geworden war. Man verurteilte ihn wegen "Rowdytums" zu neun Monaten Haft, die er antreten musste, obwohl er gesundheitlich noch unter Folgen früherer Gefängnisaufenthalte litt. Die KP-Führung konnte im Herbst 1989 zwar seine Ausreise nach Frankfurt verhindern, nicht aber die Verleihung des "Friedenspreises des Deutschen Buchhandels". Die herausgeschmuggelte Dankesrede verlas in der Paulskirche der Schauspieler Maximilian Schell.

Als am 9. Oktober 1989 in Leipzig den ostdeutschen Kommunisten die Macht schon zu entgleiten begann, herrschte in Prag noch Friedhofsruhe. Erst am 19. November begannen auch hier Massenproteste, die freilich bald das ganze Land erfassten. Jetzt ereignete sich das, was als Samtene Revolution in die Geschichtsbücher einging. Eben noch streng bewachter Häftling, stand Havel nun auf dem geschichtsträchtigen Wenzelspatz und sprach zu 50 000 Menschen, die immer wieder anstimmten: "Vaclav na hrad" (Vaclav auf die Burg). Der Dissident und Staatsfeind sollte Staatspräsident werden, das hatten sich KP-Chef Gustav Husak und Genossen in ihren schlimmsten Träumen nicht ausmalen können.

Am 29. Dezember 1989 wählten ihn die noch kommunistischen Abgeordneten einstimmig zum Präsidenten. Etwa ein halbes Jahr später konnten Tschechen und Slowaken ihr Parlament erstmals frei bestimmen. Als Präsident besaß Havel hohe Autorität, was ihn jedoch nicht vor politischen Angriffen bewahrte. Nachdrücklich sprach er sich für die Bewahrung des gemeinsamen tschechoslowakischen Staates aus, ohne sich durchsetzen zu können. Als er beim Staatsbesuch in Deutschland 2003 die Vertreibung von drei Millionen Sudetendeutschen in der unmittelbaren Nachkriegszeit verurteilte, war das ein Tabubruch. Tschechien müsse fähig sein, nicht nur das vom deutschen Boden hervorgegangene Böse zu reflektieren, "sondern auch unsere eigene Geschichte und die grausamen Handlungen, die wir - wenn auch als Antwort auf grausame Handlungen anderer - selbst begingen", sagte er im Schloss Bellevue.

Das trug ihm zu Hause heftige Angriffe ein. Aber von der oft von Intrigen bestimmten tschechischen Tagespolitik hielt sich Havel nach Ende seiner Präsidentschaft weitgehend fern. Dabei ließ er keinen Zweifel an seiner Haltung. Am deutlichsten wird sie im Kontrast zu seinem Nachfolger Vaclav Klaus, mit dem er kaum mehr als den Vornamen gemeinsam hat: Havel war kein politische Funktionär, sondern ein Künstler, der eigentlich wider Willen zum Politiker wurde. Er war kein Techniker der Macht, sondern ein liberaler Intellektueller. Er war kein Nationalist, sondern ein überzeugter Europäer. Und er war ein wunderbarer Mensch, der die Größe besaß, auch früheren Gegnern die Hand zu reichen.