Furcht vor einer Islamisierung des Landes und der Scharia. Neue Details zu Gaddafis letzten Stunden in seinem Versteck.

Tripolis/Berlin. In Tripolis defilierten die Libyer am toten Muammar al-Gaddafi im Kälteraum eines Supermarktes vorbei. Sie schossen Fotos mit ihren Handykameras und drehten ein Video für den Heimgebrauch. Eine gespenstische Szene für Europäer, für die bis dato unterdrückten Libyer aber offenbar völlig normal. Der Alltag im Libyen nach Gaddafi kommt langsam in Gang. Und über Ratschläge brauchen sich die politisch Verantwortlichen nicht zu beklagen: Die Bundesregierung drängt die neue libysche Regierung nach dem Tod von Gaddafi zu einer Demokratisierung des Landes. „Für uns ist entscheidend, dass Libyen den Weg in Richtung Demokratie geht. Darauf setzen wir, darauf hoffen wir und das werden wir unterstützen“, sagte Außenminister Guido Westerwelle am Montag.

Zu Äußerungen des libyschen Übergangsrats, die islamische Scharia zur Grundlage für das neue Rechtssystem zu machen, sagte Westerwelle: „Das werden wir genau beobachten.“ Deutschland führe derzeit Gespräche mit Repräsentanten des neuen Libyens.

Der Chef des Übergangsrates, Abdel Dschalil, hatte am Sonntag bei einer Ansprache an die Nation gesagt, jedes Gesetz, das gegen die Scharia verstoße, sei nicht mehr rechtskräftig. Zudem solle ein Bankensystem nach islamischem Recht eingeführt werden.

Der Übergangsrat hatte das Land nach 42 Jahren Diktatur von Gaddafi für befreit erklärt. Während eines Festaktes drei Tage nach dem Tod des Ex-Machthabers mit Zehntausenden Menschen in Bengasi verkündete der Ratsvorsitzende Mustafa Abdul Dschalil offiziell den Sieg über das Gaddafi-Regime. Dschalil rief seine Landsleute zu Einheit, Versöhnung, Geduld und Toleranz auf. Außerdem versprach er Rechtsstaatlichkeit sowie die Einhaltung von Menschenrechten. Die Basis für das neue Libyen soll die islamische Rechtsprechung sein.

„Hebt Eure Köpfe. Ihr seid frei, Libyer“, rief der Vize-Chef des Übergangsrates, Abdulhafis Ghoga, in die begeisterte Menge. Der Ratsvorsitzende Dschalil dankte auch der Nato sowie der Europäischen Union für die Hilfe bei der Befreiung. Nun soll binnen 30 Tagen eine provisorische Regierung gebildet werden. Diese solle dann bis Juni 2012 Wahlen zu einer verfassungsgebenden Versammlung vorbereiten, kündigte Dschalil an. Dieses Gremium soll eine Verfassung ausarbeiten, auf deren Grundlage innerhalb eines Jahres ein Parlament und ein Präsident gewählt werden.

Derweil unterstützt auch US-Außenministerin Hillary Clinton die Forderung nach einer Untersuchung der genauen Todesumstände Gaddafis. Dem Fernsehsender NBC sagte Clinton, diese Aufklärung sei Teil des Übergangs von einer Diktatur zu einer Demokratie. Sie rief auch zur Versöhnung auf: „Jeder, der Teil des alten Regimes war und an dessen Händen kein Blut haftet, sollte sicher und in ein neues Libyen miteinbezogen sein.“ Ein enger Mitarbeiter Gaddafis schilderte in Interviews, wie der einstige Machthaber seine letzte Tage verbrachte. Er habe viel im Koran gelesen sowie Nudeln und Reis gegessen, die seine Helfer aus verlassenen Häusern herbeigeschafft hatten. Zudem habe er sich beschwert, dass es in der zerschossenen Stadt Sirte keinen Strom gab. Der einstige Machthaber habe nie verstanden, warum sich die Libyer gegen ihn erhoben hätten, sagte Mansur Dhao Ibrahim der „New York Times“.

Gaddafi war diesen Angaben zufolge bis zuletzt bewaffnet gewesen, habe aber nie einen Schuss abgefeuert. Kontakt zur Außenwelt habe er zum Schluss nur über sein Satellitentelefon gehabt, mit dem er TV- oder Radiosender anrief. (abendblatt.de/dpa/rtr/dapd)