Rebellen feiern schon den Sieg in Tripolis. Doch solange der Despot Gaddafi verschwunden bleibt, droht weiteres Blutvergießen

Tripolis/Berlin. Es ist ein unfasslicher Rausch, in dem Libyen sich gerade befindet: Das Land feiert und kämpft zugleich. In der Nacht zum Montag brachen Truppen der Rebellen in die Hauptstadt Tripolis durch, während sich die Menschen im gerade befreiten Sawia 30 Kilometer weiter östlich schon in den Armen lagen. Und Reporter berichteten auch aus der umkämpften Hauptstadt, dass unzählige Menschen auf die Plätze strömten, um ihre Freiheit zu feiern, während Panzer vor dem Bab-Al-Asisia-Palast von Diktator Muammar al-Gaddafi aufzogen und dessen Sohn Chamis mit einem Großaufgebot entschlossener Elitetruppen auf das Zentrum vorrückte. An diesem Punkt, irgendwo zwischen Jubel und Blutvergießen in den Straßen von Tripolis entscheidet sich nun das Schicksal Libyens. Wie lang der letzte Akt des Dramas noch dauert, hängt von einer Frage ab: Wo ist Gaddafi?

Das letzte Lebenszeichen des Mannes, der Libyen seit 1969 beherrschte, stammt aus der Nacht zum Montag, kurz vor Mitternacht: In einer Audio-Botschaft, die das libysche Staatsfernsehen ausstrahlte, forderte Gaddafi sein Volk in geradezu apokalyptischem Ton auf, die Hauptstadt zu verteidigen. Alle, auch Frauen und Kinder, müssten jetzt zu den Waffen greifen - "Führt, führt, führt die Menschen ins Paradies!", rief er aus. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Rebellen schon den Grünen Platz im Zentrum der Hauptstadt erobert, der Freudentaumel erfasste die Innenstadt. Doch zugleich kam die Nachricht, dass Eliteeinheiten des Regimes unterwegs seien. Er werde "bis zum Ende" in Tripolis ausharren, hatte Gaddafi verkündet. Während die Menschen auf dem Grünen Platz jubelten und vor Freude in die Luft schossen, war noch lange nicht auszuschließen, dass der Diktator seine Hauptstadt noch in Blut ertränken würde, bevor man ihn fasst.

Wenig später wurde Gaddafis Sohn Saif al-Islam gefangen genommen. In den vergangenen Wochen war er - der smarte junge Mann mit der Brille und dem Dreitagebart, der an der britischen Elite-Uni LSE promoviert hat und glänzend Deutsch spricht - vielleicht sogar noch entscheidender für die operative Führung des Regimes als sein Vater. Mit der Nachricht von seiner Festnahme ist sicher, dass das System Gaddafi keine Zukunft mehr hat. Kurz zuvor hat sich schon der älteste Sohn Mohammed den Rebellen gestellt. Aber um ein Blutbad zu verhindern, braucht es noch mehr: das Signal an die letzten extremen Anhänger, dass das Spiel aus ist. Das werden sie erst glauben, wenn Muammar al-Gaddafi gefasst ist oder geflohen oder tot.

Doch die Internationale Gemeinschaft beginnt schon mit der Ordnung der Zeit nach Gaddafi. Am Vormittag verkündet Frankreichs Außenminister Alain Juppé, die Libyen-Kontaktgruppe werde sich in den nächsten Tagen treffen und darüber beraten, wie man das Land in der Zukunft unterstützen könne. Auch der Ständige EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy und Kommissionspräsident José Manuel Barroso versprechen Libyen Unterstützung beim Aufbau einer Demokratie und der Wiederbelebung seiner Wirtschaft. London will die Guthaben des libyschen Staates bei britischen Banken dem Nationalen Übergangsrat der Rebellen öffnen. Und US-Präsident Barack Obama freut sich zaghaft mit den Worten, Libyen entgleite nun "dem Griff eines Tyrannen". Doch wo ist der Tyrann?

Bevor sich Mustafa Abd al-Dschalil, der weißbärtige Vorsitzende des Übergangsrats in der Rebellen-Hochburg Bengasi auf den Weg nach Tripolis macht, sagt er, er hoffe, man werde Gaddafi noch fassen. Aber man wisse nicht einmal, ob er überhaupt noch in Tripolis sei. In der Hauptstadt werden die Kämpfe im Laufe des Tages immer erbitterter. Die Lage sei instabil, sagen die Rebellen, Scharfschützen seien das Hauptproblem. Es ist ein Anzeichen, dass tatsächlich ein Häuserkampf beginnt, vielleicht die quälendste Form des Krieges.

Dass sein Sohn Saif al-Islam gefasst wurde, ohne dass der Vater bei ihm war, ist ein Indiz dafür, dass sich der Diktator auf der Flucht befindet. Denn ohne Saif kann Muammar nicht regieren. Schon am Sonntag verbreiteten sich Gerüchte, der Herrscher sei mit Tross an der Grenze zu Algerien gesichtet worden. Das Nachbarland, wo ein Militärregime herrscht, gilt als eines der wahrscheinlichsten Aufnahmeländer für Gaddafi. Ein weiteres ist Südafrika. Gaddafi verbindet eine alte politische Freundschaft mit Nelson Mandela und anderen Führungsfiguren. Sie stammt noch aus den 70er-Jahren, als der Antikolonialismus eine gemeinsame, gute Sache zu sein schien und Solidarität kein zweischneidiges Schwert. Doch schon gestern Morgen versichert Südafrikas Außenministerin Maite Nkoana-Mashabane vor Journalisten, Gaddafi werde nicht nach Südafrika kommen, und sie wisse auch nicht, wo er sich gegenwärtig aufhalte.

Aber, so betont die Ministerin, man werde die Rebellenregierung auch bei einem Sturz Gaddafis nicht ohne Weiteres anerkennen. Die afrikanische Karte könnte Gaddafis letzter Trumpf sein. In den vergangenen Jahren hatte er sich besonders um Einfluss in der Afrikanischen Union bemüht. Hier profilierte er sich vor allem als Patron der diversen Beton-Diktaturen des Kontinents. Ein sicherer Hafen könnte die kleine Republik Äquatorialguinea sein. Doch ein komfortabler Alterssitz wäre der bitterarme Staat kaum. Schon eher könnte man das von Venezuela sagen, dem südamerikanischen Öl-Paradies an der Karibikküste, wo Gaddafis alter Freund, der Links-Populist Hugo Chávez herrscht und sogar ein Fußballstadion nach dem Libyer benannt hat.