Nicht nur Krawalle wie in London zeigen: Ein Teil der Jugendlichen hält sich nicht mehr an die selbstverständlichen Regeln der Gemeinschaft.

Hamburg. In der Nacht des vergangenen Montags verfolgte der britische Journalist Michael McCarthy im Internet, wie sich die Eskalation der Londoner Aufstände im Kurznachrichten-Netzwerk Twitter spiegelte. Er las Tausende Tweets von Londoner Bürgern. Am späten Abend habe sich die Stimmung der Twitterer spürbar verändert, berichtet McCarthy im "Independent": Zorn und Entrüstung kippten um in Angst. "Was die Leute in Schrecken versetzte, war, wie weit die Randalierer gehen ... Es wurde deutlich, dass sie alles und jeden plündern. Sie würden jeden angreifen und ausrauben, der ihnen über den Weg lief. Sie begannen in Privathäuser einzufallen", schreibt McCarthy. Für viele Twitterer brach eine Welt zusammen. Sie sahen im Fernsehen große Gruppen von Jugendlichen und jungen Männern, die "nicht mehr von unserer Kultur gebändigt waren". Der Mob überschritt alle bisherigen Schranken.

Die Grundlage einer Gesellschaft, die soziale Kultur, spielt eine enorm wichtige Rolle. Sie basiert auf einem informellen Regelwerk, was man tut und was man nicht tut. Daran richten wir weitgehend unser Verhalten aus, in allen Lebensbereichen. Wir stellen uns an, um die Busfahrkarte zu zahlen. Wir sind leise beim Betreten einer Versammlung. Wir bedanken uns für eine Auskunft. Geliehenes Geld wird selbstverständlich zurückgezahlt. Wir zerstören nicht unser eigenes Wohngebiet. Wir bemühen uns, höflich zu sein. Solche informellen Übereinkünfte sind oft bindender als geschriebene Gesetze. Wenn jemand sie grob missachtet, reagieren wir verstört und finden spontan oft keine angemessene Reaktion.

Zwar versuchen deutsche Konfliktforscher wie der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer zu beruhigen: Zustände wie in London seien bei uns nicht zu erwarten. "Das Wutniveau, der Rassismus und der Hass auf die Polizei" seien bei uns bei Weitem nicht so ausgeprägt. Die "kritische Masse an Leuten, die nichts zu verlieren haben", sei in deutschen Städten einfach nicht so groß wie in den Millionenmetropolen London, Los Angeles oder Paris.

Das leuchtet ein, aber Zweifel bleiben. Die Deutschen können nicht die Augen davor verschließen, dass auch hier die Zahl derer wächst, die "aus der Kultur" fallen, denen allgemein akzeptierte soziale Übereinkünfte nichts mehr gelten.

Wie anders lässt sich erklären, dass jeden Monat in Hamburg Autos angezündet werden? Ganz normale Golfs und Opels, mal in Steilshoop, mal in Alsterdorf oder mal in Ottensen. Achtung vor Eigentum? Ist abhandengekommen.

Oder das Phänomen der S-Bahn-Täter, die Fahrgäste beleidigen, mit lauter Musik beschallen, rauchen - und wild drauflosprügeln. Rücksicht auf die Interessen anderer? Achtung vor ihrer Würde? Abhandengekommen.

Man könnte an die Massenschlägerei in Neuwiedenthal im Juni 2010 erinnern, bei der ein Mob von mehr als 40 jungen Männern Flaschen und Steine auf Polizisten warf. Fünf Beamte wurden zum Teil schwer verletzt. Umgangsformen im öffentlichen Raum? Abhandengekommen.

Man könnte auch an den Anschlag auf die Polizeirevierwache Lerchenstraße im Dezember 2009 erinnern. Zehn bis 15 Vermummte versuchten nachts, die Eingangstür zu verriegeln und die Wache anzuzünden, bewarfen Beamte mit Steinen, setzten zwei Streifenwagen in Flammen. Oder an die "Schlacht" auf der Schanze am 1. Mai 2010, als 900 Polizisten rund 1500 jungen Männern gegenüberstanden, laut Polizei ein bunter Haufen aus Autonomen, Punks, Hooligans und "gewalterlebnisorientierten Jugendlichen". Auch ein Drogeriemarkt wurde geplündert. Achtung vor dem staatlichen Gewaltmonopol? Abhandengekommen.

So wie die Briten sich jetzt fragen "Haben die Aufstände etwas mit Rassismus zu tun?" ("The Guardian"), so fragen wir uns immer wieder: Haben die Krawalle auf der Schanze nicht doch etwas mit Protest zu tun, etwa gegen Gentrifizierung? Auch das sagt viel über unsere soziale und politische Kultur aus: Wir wollen keine Polizeiübergriffe wie den "Hamburger Kessel" 1986 bei einer Anti-Atom-Demonstration. Wir wollen aber auch keine Provokation der Staatsmacht ohne dringenden, nachvollziehbaren Grund. Zivilen Ungehorsam tolerieren die Deutschen, etwa Sitzblockaden gegen Pershing-Raketen oder Demonstrationen gegen die Abschiebung von Kindern in Krisengebiete. Aber zu den Schanzenkrawallen und Autobränden werden Botschaften nicht einmal kommuniziert.

Der Autor Hans Magnus Enzensberger hat diese Entwicklung schon 1993 in seinem Buch "Aussichten auf den Bürgerkrieg" vorausgesehen. Nicht nur in "failed states" wie Somalia, auch in den Metropolen des Westens, den Zentren des Kapitalismus, habe der "molekulare Bürgerkrieg" schon begonnen: Die Zahl der Verlierer, die sich vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen fühlen, steigt, sie antworten mit Vandalismus und Aggression und dem "Autismus der Gewalt", schreibt Enzensberger. "Was dem Bürgerkrieg der Gegenwart eine neue, unheimliche Qualität verleiht, ist die Tatsache, dass er ohne jeden Einsatz geführt wird, dass es buchstäblich um nichts geht." Um nichts außer dem Gefühl der Macht, wenn man einen Stein auf Polizisten wirft. Um nichts als ein paar Handys, die man aus Läden klaut. Politische Begründungen sind reine Staffage. In Wahrheit haben die Randalierer keine Inhalte, die sie vertreten. Sie haben nicht einmal einen festen Zusammenhalt. In dieser Haltlosigkeit spielen soziale Verhaltensstandards ohnehin keine Rolle mehr.

Aber solche Standards weichen auch in anderen Teilen der Gesellschaft auf. Fassungslos haben wir in der Bankenkrise lernen müssen, dass selbst Sparkassen ihren Kunden dubiose Anlageprodukte andrehten. Seit dem Mittelalter gehörte es zur Ehre eines Bankhauses, das Geld der Kunden zu mehren und zu schützen. Eine der ältesten Übereinkünfte - abhandengekommen.

Der Grundsatz "Treu und Glauben" müsste eigentlich schon auf die Rote Liste gesetzt werden. Auch früher schon haben Menschen bei Doktorarbeiten geschummelt. Aber müssen sie das hartnäckig leugnen, nur weil sie sich als Minister für unangreifbar halten?

Im ganz normalen Alltag werden Hunderttausende von Altenheim-Bewohnern wöchentlich mit Wurfsendungen überschüttet, die ihnen - gegen eine "kleine Gebühr" - beste Chancen in Gewinnspielen versprechen. Die Einwilligung der "lieben Kunden" wird gar nicht abgewartet, die Gebühr einfach von ihrem Konto abgebucht. Ihre persönlichen Daten hat man sich im Handel beschafft. Datenschutz? Vertraulichkeit? "Ehrbarkeit in Handel und Wandel"? Abhandengekommen.

Wir Babyboomer wuchsen in einer Gesellschaft auf, in der es zwar Hausbesetzungen und Sit-ins und heftige Debatten gab, aber auch ein Urvertrauen in Stabilität, den freien Zugang zu Bildung, betriebliche Mitbestimmung, das Solidarprinzip bei Renten und Krankenversicherungen ("Generationenvertrag") und einen Sozialstaat, der eine soziale Ausgewogenheit herstellte. Für unsere gerade erwachsenen Kinder sieht die Lage heute anders aus. Der Rückzug des Staates, die Verschlankung der Unternehmen, das Sparen im öffentlichen Sektor hat viele alte Übereinkünfte aufgeweicht oder abgeschafft.

Für eine ausreichende Alterssicherung legt man am besten schon mit 20 Jahren etwas Geld an. Versicherungen schrumpfen auf Grundleistungen. Gute Universitäten kosten viel Geld. Vollbeschäftigung scheint nie wieder erreichbar. Die Staatsschulden, die wir heute machen, werden unseren Kindern wenig Spielraum lassen. Und die Kosten des Klimawandels haben wir noch gar nicht in den Blick gefasst.

Diese Entwicklung hat Folgen für unsere Gemeinschaftskultur. Der gefühlte Staatsbürger in uns ist tief verunsichert. Die Leute reden mehr über Abstiegsängste als über ihre Aufstiegshoffnungen. Deshalb ist die Erwartung an mehr Umverteilung im Staat bei vielen Menschen gestiegen. Aber nicht ihr Vertrauen, dass er es auch tut. Die stillschweigende Übereinkunft, dass der Staat gerechte Steuern erhebt, Schulen gut ausstattet, den Bedürftigen wirksam hilft, weicht auf.

Stattdessen verbreitet sich der Eindruck: Dieser Staat rettet Banken und Währungen, den Rest aber nur, wenn es die Konjunktur erlaubt. Wer ist hier eigentlich das Volk - der Souverän -, wenn eine einzige Rating-Agentur letztlich mehr Einfluss auf die Wirtschaft hat als Millionen Beschäftigte, die sich für ihren Job krummlegen? Diese Gefühle teilen wir mit den Franzosen, den Briten und anderen Nachbarn, die es zum Teil viel schwerer haben, aus dem Schuldental herauszukommen.

Natürlich will niemand ein Zurück zu der hochnormativen Zeit der Fünfziger und Sechziger. Es würde auch wenig nützen, mehr Gefängnisse zu bauen und Täter schneller zu verurteilen. Großbritanniens Gefängnisse sind trotz harter Strafgesetze für Plünderer und Wiederholungstäter überfüllt mit jugendlichen Dauergästen.

Nein, der Weg ist schwieriger. Unsere Gesellschaft muss sich im Kern einig werden, welches Verhalten gut, welches gerade noch tolerierbar und welches inakzeptabel ist. Worauf Verlass sein muss und wo experimentiert werden darf. Letzten Endes geht es um das kleine Wort Anstand - im Miteinander, in der Politik, in der Wirtschaft. Auch junge perspektivlose Menschen haben das Recht, vom Staat anständig behandelt zu werden. Sie müssen dann aber auch dem Staat eine ordnende Macht zugestehen. Man kann Anstand nicht nur "ein bisschen praktizieren". Menschlicher Anstand ist der Kern, der alles zusammenhält.