Drei Männer starben in Birmingham. Ein Jahr vor den Olympischen Spielen droht London seinen Ruf zu verspielen

London. Wenn Hooligans die Rolle der Bürgerbeschützer übernehmen, ist das ein schlechtes Zeichen für den Zustand der Polizei. Am Dienstagabend liefen die berüchtigten Fans des Südlondoner Fußballvereins Mill Hill in Mannschaftsstärke auf, um ihre lokale Einkaufsstraße vor Plünderern zu sichern. Auch in anderen Teilen der britischen Hauptstadt nahmen Bürger die Schutzgewalt selbst in die Hand. Im Westlondoner Bezirk Southall postierte sich eine Gruppe der Glaubensgemeinschaft Sikh, um ihren Tempel zu beschützen. In Enfield im Süden der Stadt versammelten sich ebenfalls große Gruppen auf den Straßen, um den Randalierern Einhalt zu gebieten.

Nach drei Tagen des Scheiterns ihrer Einsatzkräfte trauen die Londoner ihrer eigenen Polizei nicht mehr. Lange genug haben sie im Fernsehen und vor ihrer eigenen Haustür zugesehen, wie Gangs Geschäfte plündern, Straßenzüge verwüsten, Autos und Häuser anzünden. Am Sonnabend, Sonntag und Montag war es in London zu schweren Ausschreitungen gekommen, deren die Polizei nicht Herr wurde. Am Dienstagabend erzielten die Beamten immerhin einen ersten Teilerfolg in London: In der britischen Hauptstadt verlief die Nacht zum Mittwoch weitgehend ruhig, nachdem Premierminister David Cameron 16 000 Beamte aus dem ganzen Land auf die Straßen der Hauptstadt schickte. Am Montag waren es noch 6000 gewesen, am Sonntag lediglich 2000. Doch während es in der britischen Metropole friedlich blieb, breitete sich die Anarchie auf andere Städte in England aus.

Zu Straßenschlachten, Plünderungen und Bränden kam es in mehreren Städten nördlich von London, darunter Manchester, Birmingham, Salford, Liverpool und Nottingham. In Birmingham wurden drei Männer von Randalierern mit dem Auto überfahren und starben. Zeugen sagten dem britischen Fernsehsender BBC, das mit vier Männern besetzte Auto sei mit hoher Geschwindigkeit direkt auf die Gruppe von Einwanderern zugerast. Die Opfer, die nach Angaben von Zeugen Geschäfte ihrer Wohngegend vor Plünderern schützen wollten, starben noch in der Nacht im Krankenhaus. Die Polizei ermittelt wegen Mordes gegen einen 32-Jährigen, zu dessen Identität zunächst keine näheren Angaben vorlagen. Ein Fahrzeug sei beschlagnahmt worden, teilte ein Sprecher mit. Beobachter befürchten nun mögliche Racheaktionen in der Stadt, die für ihre rivalisierenden Gruppen von Jugendlichen verschiedener Herkunft bekannt ist. Sozialarbeiter und Gemeindevertreter appellierten an die Bevölkerung, das Gesetz nicht selbst in die Hand zu nehmen.

In Nottingham griffen Autonome eine Polizeiwache mit Brandsätzen an, und in Liverpool attackierten sie einen Feuerwehrwagen. Mehr als 1000 Menschen nahm Scotland Yard mittlerweile fest. Die Gerichte schieben Sonderschichten, die Gefängnisse sind überfüllt.

Die Krawalle haben auch zwei Prominente getroffen: Erster Leidtragender war Starkoch Jamie Oliver, dessen Restaurant in Birmingham ins Visier der Randalierer geriet. Sie hätten alle Fenster eingeschmissen, twitterte der Starkoch, der sich immer wieder auch für soziale Projekte einsetzt. Jamie schrieb sich gleich seinen Frust von der Seele. "Alle sind verrückt geworden. Es ist an der Zeit, das Land zurückzuerobern. Wir müssen hart gegen diese Idioten vorgehen." In Manchester traf es den Ex-Oasis-Frontmann Liam Gallagher, berichtete die britische Nachrichtenagentur PA. Dort plünderten die Randalierer demnach in der Nacht zum Mittwoch eine Boutique des Modelabels "Pretty Green" - ein Projekt des Rocksängers.

Nur ein Jahr vor den Olympischen Spielen hat die britische Hauptstadt ein schwerwiegendes Imageproblem. Südafrikas Regierungspartei ANC rief das Olympische Komitee sogar dazu auf, London die Olympischen Spiele 2012 zu entziehen. Solche Forderungen muss man nicht ernst nehmen, sie treffen jedoch einen wahren Kern. Wie will die Londoner Polizei die Sicherheit von Millionen von Olympia-Besuchern gewährleisten, wenn sie noch nicht mal ihre eigenen Bürger unter Kontrolle hat? Londons Bürgermeister Boris Johnson forderte gestern, die geplanten Kürzungen des Polizei-Etats abzublasen. "Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, die Zahl der Beamten deutlich zu reduzieren", sagte er. Premier Cameron hatte im vergangenen Jahr das härteste Sparprogramm der britischen Nachkriegszeit vorgestellt. Davon ist auch die Polizei betroffen, die in den kommenden vier Jahren 20 Prozent ihrer Kosten einsparen soll. In den vergangenen zwölf Monaten sank die Zahl der Polizisten bereits um 4625 auf 139 110.

Viele Experten sehen die zunehmende Demoralisierung der Truppe als einen der Hauptgründe, warum es so weit kommen konnte in England. Die einst so beliebte Londoner Polizei wird von den Bürgern nicht mehr wertgeschätzt. Die Beamten schieben Überschichten, der Staat investiert weniger in ihre Ausrüstung und in ihren Schutz. "Die Moral der Beamten ist auf einem absoluten Tiefstand", sagt Paul Deller von der Polizeigewerkschaft.

Zu großen Teilen hat sich die Londoner Metropolitan Police ihr schlechtes Image allerdings selbst zuzuschreiben. Erst im Juli mussten der Londoner Polizeichef und sein Stellvertreter zurücktreten, weil Polizisten mindestens 100 000 Pfund Bestechungsgelder von Reportern des inzwischen eingestellten Boulevardblatts "News of the World" angenommen hatten. Darüber hinaus haben drei spektakuläre Todesfälle das Ansehen der Polizei beschädigt: 2005 wurde ein Unschuldiger irrtümlich als Terrorverdächtiger erschossen, 2009 starb ein Zeitungsverkäufer während des G20-Gipfels an den Folgen von Polizeigewalt. Die Ausschreitungen der vergangenen Tage wurden ausgelöst durch den Tod des 29-jährigen Mark Duggan vergangenen Donnerstag in London-Tottenham. Wie die unabhängige Polizeiaufsichtsbehörde IPCC zwischenzeitlich mitteilte, hatte Duggan nicht auf die Polizisten geschossen, wie diese zunächst behauptet hatten.

Nach all den Skandalen der Vergangenheit war die Londoner Polizei in den ersten drei Nächten der Gewalt dazu angehalten, sich defensiv zu verhalten. Statt aggressiv einzugreifen, sollte sie hauptsächlich Präsenz zeigen. Viel spricht dafür, dass diese Strategie die Ausschreitungen noch beflügelt hat. Anders als in Deutschland besitzt die britische Polizei keine Wasserwerfer und setzt kein Tränengas ein.

Premier Cameron trat gestern vor die Presse und ordnete an, dass die Polizei ab sofort mit aller Härte gegen Randalierer vorgehen solle. Innerhalb von 24 Stunden könnten Wasserwerfer zum Einsatz gebracht werden. Auch dürften die Polizisten nun erstmals in der Geschichte des Landes Gummigeschütze nutzen. "Welche Ressourcen die Polizei auch benötigt, sie wird sie bekommen", versprach Cameron. Für neue Einsatztaktiken werde die Regierung so schnell wie möglich die rechtliche Grundlage schaffen.

Cameron weiß, dass es auch für ihn um alles geht. Er wäre nicht der erste Regierungschef, der über einen solchen Aufruhr in der Gesellschaft sein Amt verliert. Deswegen will er auch bei den Ermittlungen absolute Härte walten lassen. Die Londoner Gerichte tagten in den vergangenen Tagen sogar nachts. Mehr als 160 Menschen konnten schon verurteilt werden. Die Polizei veröffentlichte in großen Mengen Videobilder der Krawallmacher der vergangenen Tage. Cameron sagte, Bürger seien dazu aufgerufen, die Randalierer anzuzeigen, um sie so schnell wie möglich hinter Gitter zu bringen. "Foto für Foto werden diese Kriminellen identifiziert und festgenommen, und wir werden keine scheinheiligen Bedenken über Menschenrechte akzeptieren, die die Veröffentlichung der Bilder verhindern könnten."

Was die Ursachen der Krawalle angeht, gab Cameron zu, das Land habe ein "großes Bandenproblem". Die Gangs seien aber nicht repräsentativ für die große Mehrheit der jungen Leute in Großbritannien. Viel spricht dafür, dass es sich der Premierminister damit zu leicht macht. Eine der Angeklagten vor einem Londoner Gericht war gestern die 31 Jahre alte Lehrerin Alexis Bailey. Sie bekannte sich schuldig, am Montagabend an der Plünderung eines Elektronikgeschäftes im Südlondoner Stadtteil Croydon beteiligt gewesen zu sein. Wenn selbst Lehrer zu den Krawallmachern gehören, kann man wohl nicht mehr von ein paar randalierenden Randgruppen sprechen. Dann hat die britische Gesellschaft ein viel tiefer greifendes Problem.