Die Gewalt in London kostet einen jungen Mann das Leben. Häuser und Autos in Flammen. Welle der Gewalt greift auf immer mehr Stadtteile über. Schon 525 Festnahmen

London. Spuren der Verwüstung pflasterten gestern die Straßen mehrerer Stadtteile der britischen Hauptstadt. Es sieht aus wie nach einem Bombenangriff: Häuser sind bis auf die Grundmauern abgebrannt, verkohlte Autos und Busse blockieren den Weg, Glasscherben und Blutspritzer überall auf dem Boden. Viele Anwohner mussten aus den brennenden Häusern fliehen und haben alles verloren.

Nachdem sich mehr als 200 Randalierer in der Nacht zum Sonntag im Londoner Stadtteil Tottenham eine Straßenschlacht mit der Polizei lieferten, breitete sich die Gewalt gestern weiter aus. In mehreren als sozial schwach geltenden Stadtteilen Londons wurden Fahrzeuge und Gebäude in Brand gesetzt, während die Behörden Mühe hatten, randalierende Jugendliche zu stoppen. Südlich der Themse standen in den Vierteln Peckham und Croydon Gebäude und ein Bus in Flammen. Über der Stelle stiegen dicke Rauchwolken auf. Im nahe gelegenen Lewisham wurde eine Reihe von Autos in Brand gesteckt. In Hackney im Osten von London griffen Dutzende Jugendliche Geschäfte an, plünderten und zerstörten Fensterscheiben. Polizisten wurden mit Feuerwerkskörpern, Holzstücken und Flaschen beworfen.

Auch in der Einkaufsstraße Oxford Street im Londoner Zentrum war es zu Plünderungen gekommen, die die Polizei jedoch schnell stoppen konnte. Die Krawalle waren vorab über soziale Netzwerke wie Twitter oder Facebook angekündigt worden. Die BBC berichtete, in Birmingham wurden gestern erstmals auch Krawalle außerhalb der Hauptstadt gemeldet.

Großbritanniens Premierminister David Cameron brach inzwischen seinen Urlaub in der Toskana ab und wollte noch gestern Abend nach London zurückkehren. Der Regierungschef habe eine Sondersitzung des Nationalen Sicherheitsrates einberufen, teilte die Downing Street mit.

Die Polizei hat mittlerweile rund 525 Menschen festgenommen. Der stellvertretende Leiter der Polizeioperation, Steve Kavanagh, gab zu, dass die Polizei am Sonntag zu wenige Einsatzkräfte auf die Straßen geschickt habe. Die Beamten seien mit der Situation vollkommen überfordert gewesen. Kamerateams der TV-Sender BBC und SkyNews filmten, wie die Diebe zu Hunderten über die Straßen von Brixton strömten, gezielt in Läden einbrachen und in aller Seelenruhe Kleidung oder Turnschuhe anprobierten.

Ein Fernsehteam folgte zwei Jugendlichen, die in gemütlichem Gang einen Flachbildfernseher davontrugen. Andere TV-Bilder zeigen, wie Personen verschiedenen Alters einen Supermarkt mit Tüten voller Lebensmittel verlassen, als hätten sie dort eingekauft. Inzwischen wurden Tausende Polizisten von Regionen außerhalb Londons zum Sondereinsatz in die Hauptstadt beordert. Bislang sei gegen 27 Randalierer Anklage wegen der Unruhen und Plünderungen erhoben worden, sagte die britische Innenministerin Theresa May. Unter ihnen sei ein elfjähriger Junge, dem Diebstahl vorgeworfen werde. Rund 100 der festgenommenen Personen seien 21 Jahre alt oder jünger, hieß es. 35 Polizisten wurden bei den Ausschreitungen verletzt.

Experten werteten die offensichtliche Überforderung der Polizei als Zeichen für die sinkende Moral bei Scotland Yard. Die Regierung von Premier David Cameron plant, in den nächsten vier Jahren 20 Prozent des ohnehin knappen Etats einzusparen. Das sorgt seit Langem für Unmut.

Die Londoner Polizei hatte die Gefahr der drohenden Krawalle nicht kommen sehen, als ein Beamter am Donnerstagabend den 29-jährigen Mark Duggan in Tottenham erschoss. Der vierfache Vater war verdächtig, einer der kriminellen Banden des Viertels anzugehören. Nach ersten Darstellungen der Polizei saß Duggan in einem Taxi und hatte auf die Polizisten gefeuert. Daraufhin habe ihn ein Beamter in Notwehr getötet. Der Polizist hatte ein Funkgerät am Körper getragen, in dem sich eine Kugel fand. Diese galt als Beweis dafür, dass Duggan tatsächlich gefeuert hatte. Wie der "Guardian" jedoch berichtete, soll die Kugel im Funkgerät nach ersten Untersuchungen von einer Polizeiwaffe stammen.

Die mangelnden Informationen über den Vorfall lösten die Ausschreitungen am Sonnabend in Tottenham aus. Am späten Nachmittag hatte sich die Familie des Verstorbenen mit rund 100 weiteren Menschen zu einer friedlichen Demonstration vor der Polizeiwache in Tottenham versammelt. Sie forderten die Polizei auf, vor die Tür zu treten und eine Erklärung abzugeben. "Wenn ein Beamter gekommen wäre und mit uns geredet hätte, wären wir gegangen", sagte Sozialarbeiter Stafford Scott dem "Guardian". Dass die Polizei den Dialog verweigert habe, sei gerade in einem Stadtteil wie Tottenham unverzeihlich. Tottenham ist eine der ärmsten Regionen Londons mit einer der höchsten Ausländerquoten.

Zu den bisher schlimmsten Ausschreitungen kam es dort 1985. Die Polizei durchsuchte damals die Sozialwohnung des schwarzen Verdächtigen Floyd Jarrett. Seine Mutter Cynthia Jarrett starb dabei an einem Herzanfall. In den folgenden Krawallen wurde ein Polizist vom Mob erstochen. Die Gewalt entlud sich vor allem, weil sich die überwiegend schwarze Bevölkerung von einer angeblich rassistischen Polizei gegängelt und diskriminiert fühlte.

Heute haben die Gewaltausbrüche auch ökonomische Gründe. Mehr als drei Jahre nach Beginn der Finanzkrise hat sich die britische Wirtschaft noch immer nicht erholt. Hohe Arbeitslosigkeit und die härteste Sparpolitik seit 30 Jahren führen in ohnehin schon benachteiligten Regionen Englands zu hoher Frustration. Jobs sind dort Mangelware. Dazu kürzt die Regierung Sozialhilfe, Kinder- und Wohnungsgeld. In Tottenham schloss die Bezirksverwaltung mehrere Jugendzentren.