Kenia wird des Ansturms der Hunger-Flüchtlinge aus Somalia kaum noch Herr. Vor allem die Kinder leiden unter der Knappheit und sterben.

Dadaab/Kenia. "Hm, ich weiß es nicht. Wirklich nicht", sagt Abdio Ali Elmoi. Sie hockt zusammengekauert auf dem Boden, verschmolzen mit dem staubtrockenen Sand des von Dürre geplagten Grenzgebietes zwischen Kenia und Somalia. "Ich kann mich nicht erinnern, wie alt ich bin." Mit ihren knochigen Händen streicht die Somalierin den Staub aus dem Gesicht. "Ich habe alles vergessen." Elmoi ist eine von Zigtausenden Flüchtlingen, die von Hunger getrieben über die somalische Grenze nach Kenia in das weltweit größte Flüchtlingslager Dadaab fliehen. Ein langes schwarzes Gewand und ein Schleier bedecken den ganzen Körper der Muslimin. Das betont ihr von tiefen Falten durchfurchtes Gesicht, ihre Augen sind müde.

Elmoi hat seit Monaten keine ordentliche Mahlzeit mehr zu sich genommen. Hunger und Durst lassen sie keinen klaren Gedanken mehr fassen. Lange sei sie mit ihren Kindern unterwegs gewesen, sagt sie. "Zuerst sind wir mit dem Bus gefahren. Bis zur kenianischen Grenze. Dann hatte ich kein Geld mehr, und wir sind gelaufen." Barfuß durch die menschenfeindliche Landschaft im Osten Kenias, wo zahlreiche Regenperioden hintereinander ausgefallen sind und nichts mehr wächst außer Grausamkeiten bewaffneter Banditen, die verzweifelte Flüchtlinge wie Elmoi überfallen und demütigen.

Elmoi ist schwach auf den Beinen, aber sie hat es geschafft, ihre beiden Töchter und ihren Sohn Mustafa aus der Hafenstadt Kismayo im Süden Somalias in das etwa 250 Kilometer entfernte Dadaab zu bringen. Fünf weitere Kinder ließ sie bei ihrem Mann zurück. Und hier sitzt sie nun - brav in Reih und Glied - mit 1300 anderen Somaliern, die allein heute hier angekommen sind - um sich offiziell registrieren zu lassen und Essen und Wasser von den Hilfsorganisationen in einem der drei Flüchtlingscamps von Dadaab zu bekommen.

"In Somalia kann man nicht mehr leben", sagt Elmoi. "Unser Vieh ist tot. Drei meiner Kinder sind verhungert." Als vor einem Monat ihre zwei Jahre alte Tochter starb, fassten Elmoi und ihr Mann den Entschluss, nach Dadaab zu gehen. Es war nicht genug Geld für alle Familienmitglieder da. Also ging Elmoi vor. Sie soll nun die Reise der restlichen Familie organisieren. Aber dazu fehlt jetzt erst einmal die Kraft.

15 Millionen Menschen sind am Horn von Afrika von der schlimmsten Dürre seit 60 Jahren betroffen. In Somalia sind die Auswirkungen am schlimmsten. Hunger paart sich hier mit nicht enden wollenden politischen Unruhen und dem Terror der radikal-islamistischen Organisation al-Schaabab. Bis Ende des Jahres, so schätzt die Hilfsorganisation Care, werden in Dadaab voraussichtlich 500 000 somalische Flüchtlinge leben. Jetzt sind es schon mehr als 380 000. 70 Prozent davon sind Frauen und Kinder.

"Mustafa hat nach drei Tagen aufgehört zu sprechen", sagt Elmoi. Sie zieht den Fünfjährigen zu sich und befiehlt ihm, aufzustehen. Die Beine des kleinen Jungen sind wackelig. Seinen Kopf hält er schräg. Der abgemagerte Junge hechelt wie ein Hund, so groß ist sein Durst. Wenn Elmoi Glück hat, wird sie noch heute offiziell registriert. Fingerabdrücke, Fotoaufnahmen und Formulare - all das muss sie hinter sich bringen, um das blaue Armband zu bekommen, mit dem sie regelmäßige Lebensmittelrationen erhält.

Doch in dem großen weißen Zelt, in dem Angestellte der kenianischen Regierung die Neuankömmlinge registrieren, herrscht Chaos. "So viele Flüchtlinge hatten wir hier noch nie", sagt Mohammed Gagalo, Leiter des Registrationszentrums in Dadaab. "Wir kommen kaum noch klar. Unsere Kapazitäten sind erschöpft, aber wir müssen jeden Flüchtling erfassen und überprüfen."

Die Regierung befürchtet, Mitglieder der al-Qaida nahestehenden al-Schaabab könnten massenweise unerkannt mit der Flüchtlingsflut ins Land eindringen. Die Sicherheitsorganisation der Vereinten Nationen, UNDSS, geht davon aus, dass sich derzeit in den drei Flüchtlingslagern von Dadaab mindestens 5000 Waffen befinden, vornehmlich Kalaschnikows und Pistolen. Drei Piratensender gibt es in dem riesigen Lager, die islamistische Propaganda verbreiten. Bisher scheiterten alle Versuche der Polizei, sie zu finden. Schätzungsweise acht- bis zehntausend Flüchtlinge in Dadaab - so UNDSS - sind illegal in Kenia und haben eine kriminelle Vergangenheit. Mitarbeiter der Uno und ein Großteil der Hilfsorganisationen fahren nur mit bewaffneten Eskorten durch das Lager. Überfälle und Entführungen gibt es immer wieder.

"Vergangenes Jahr kamen monatlich 6000 Flüchtlinge nach Dadaab. Anfang des Jahres stieg die Zahl auf 10 000 im Monat und im Juni allein hatten wir 30 000", sagt Bettina Schulte, Sprecherin des Uno-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) in Dadaab. Diesen Monat werden es noch mehr sein. Das UNHCR erwägt nun, Minibusse einzusetzen, um geschwächte Flüchtlinge von der somalischen Grenze nach Dadaab zu bringen. "Unsere Hauptsorge gilt den Babys, die es nicht schaffen, in unser Krankenhaus zu kommen", sagt Edward Chege, Direktor des Krankenhauses von Dadaab.

In dem von Ärzte ohne Grenzen unterstützten Krankenhaus stehen reihenweise weiß lackierte Stahlbetten, darin liegen bis auf die Knochen abgemagerte Kinder und Säuglinge. Das Wimmern und die Schreie der jungen Dürreopfer gehen durch Mark und Bein. Isak Abdi Saney sitzt neben seinem sechs Monate alten Sohn und streichelt ihm über den Bauch. Der Junge ist kleiner als ein Neugeborenes. Sein Mund ist weit geöffnet, die Pupillen verschwinden rollend unter den Augenlidern. Die Haut des Kindes hängt schlaff von den Armen herab. Die Ärzte konnten in den Armen keine Vene für den Tropf finden, deshalb musste die Kanüle am Kopf angesetzt werden. "Ich weiß manchmal nicht, ob er tot oder lebendig ist", sagt Saney. Er ist ein einfacher somalischer Bauer und dies ist sein erster Sohn. "Wir haben noch zwei Töchter. Sie warten draußen vor dem Krankenhaus. Auch ihnen geht es nicht gut, aber doch besser als meinem Sohn. Wir sind müde, erschöpft und hungrig, aber ich muss meinem Sohn jetzt Kraft spenden", sagt er. Seine Frau steht neben ihm, ihr Blick ist leer. Als zwei Ärzte seinen Sohn untersuchen, weint der Kleine. Nein, er wimmert nur, sein kleiner ausgetrockneter Körper kann wohl keine Tränen mehr produzieren. Saney verzieht schmerzerfüllt sein Gesicht. "Wie kriegen ihn durch", sagt der eine Arzt. Sein Kollege schweigt.

Da die drei existierenden Camps in Dadaab hoffnungslos überfüllt sind und 70 000 Flüchtlinge derzeit außerhalb der Lagergrenzen leben, plant das UNHCR bereits eine Erweiterung um 40 000 Plätze und ein ganz neues Lager mit einer Kapazität von 100 000 Flüchtlingen. Dabei wurde schon im November vergangenen Jahres ein neues Lager fertig gestellt. Steinhäuser mit guten sanitären Anlagen und Platz für 40 000 Flüchtlinge. Doch die kenianische Regierung hat bisher die Eröffnung untersagt. Zu schön sei es, hieß es bei der ersten Besichtigung kenianischer Offizieller. Man befürchte, die Flüchtlinge würden für immer bleiben. Die Sorge ist nicht unberechtigt: Somalis fliehen seit 20 Jahren nach Dadaab. Sie dürfen das Lager nicht verlassen, haben keine Arbeitserlaubnis, keine Zukunft. Der akute Ansturm ist eine weitere Phase in der Entwicklung Dadaabs hin zu einer somalischen Stadt außerhalb der Landesgrenze.