Nach dem Abhörskandal erschien am Sonntag die letzte Ausgabe der englischen “News of the World“. Druck auf Premier Cameron bleibt.

London. Die Schließung der "größten Zeitung der Welt", wie sich "News of the World" (NoW) auf der letzten Titelseite gestern selbst bezeichnete, hat dem Medien-Konzern des US-australischen Unternehmers Rupert Murdoch keine Atempause verschafft. Nach Medienberichten bereitet die Sonderkommission von Scotland Yard weitere Verhaftungen "in Kürze" vor. Den Journalisten des britischen Boulevardblatts wird vorgeworfen, Tausende Telefone abgehört zu haben, unter anderem von Verwandten getöteter britischer Soldaten, von vermissten Kindern und den Todesopfern der Bombenanschläge 2005 in London. Zudem sollen Redakteure Polizisten bestochen haben.

Nachdem bekannt wurde, dass Mitarbeiter über Jahre hinweg die Telefone von Prominenten, aber auch von Angehörigen getöteter Soldaten sowie eines ermordeten Mädchens abhörten und Polizisten für Informationen bezahlt haben sollen, stellte Murdoch die Zeitung nun ein: Mit der schlichten Schlagzeile "Thank You & Goodbye" (Danke und Auf Wiedersehen) verabschiedeten sich die Redakteure der "News of the World" gestern von ihren Lesern.

Der Skandal hat inzwischen weite Kreise bis hinein in die oberste Regierungsetage gezogen. Auch Premierminister David Cameron steht deswegen unter Druck. Sein früherer Kommunikationschef Andy Coulson war von 2003 bis 2007 Chefredakteur bei dem Boulevardblatt. Er hatte damals seinen Hut genommen, als einer seiner Reporter im Zusammenhang mit einem Abhörskandal bei der britischen Königsfamilie verurteilt wurde. Nun holten ihn die Vorwürfe ein, am Freitag nahm die Polizei Coulson fest. In den Medien nahm der Druck auf den Regierungschef zu. Die linksliberale Zeitung "Independent" kritisierte Cameron scharf für seine damalige Entscheidung, Coulson einzustellen. Der Premierminister sei zuvor öffentlich und privat davor gewarnt worden, vorbelastete Personen wie Coulson mit in die Downing Street zu nehmen, habe diese Warnungen jedoch ignoriert. Der Premierminister müsse nun Erklärungen liefern.

Der Gescholtene bemüht sich jetzt um Schadensbegrenzung: Cameron will sich heute mit prominenten Opfern der Abhöraffäre treffen, darunter dem Schauspieler Hugh Grant sowie Angehörigen des ermordeten 13-jährigen Mädchens Milly Dowler. Dass die NoW-Leute das Mobiltelefon der Vermissten nicht nur abgehört, sondern auch Nachrichten gelöscht hatten, wodurch Eltern und Polizei falsche Hoffnung schöpften, hatte vergangene Woche den Medien-Skandal ins Rollen gebracht.

Der "Sunday Telegraph" berichtete gestern, das Abhören von Mailboxen sei Standard bei der "News of the World" gewesen. Laut "Sunday Times" geht die Polizei davon aus, dass mindestens neun Journalisten und drei Polizisten Gefängnisstrafen erhalten. Ein hoher Polizeiführer räumte den "erheblichen Ansehensschaden" ein, den Scotland Yard durch allzu lasche Ermittlungen erlitten hat. Der "Guardian" berichtete, beim Verlag News International, zu dem auch "Sun", "Times" und "Sunday Times" gehören, seien Millionen E-Mails gelöscht worden, um die Ermittlungen zu erschweren.

Unterdessen traf gestern der 80 Jahre alte Konzernchef Murdoch in London ein, um die geplante Übernahme des hochprofitablen Satellitensenders BSkyB durch seinen Konzern News Corp zu retten. Den Journalisten präsentierte er sich die letzte NoW-Ausgabe lesend. Wie andere Politiker vor ihm distanzierte sich inzwischen auch Cameron von der geplanten Komplett-Übernahme von BSkyB. Auch Tory-Kabinettsmitglied Philip Hammond äußerte gestern öffentlich "Bedenken" gegen den Kauf. Die Regierung kündigte an, die Schließung der "News of the World" bei ihrer kartellrechtlichen Prüfung einzubeziehen.

Die Gegner Camerons wittern die Chance, die 14 Milliarden Dollar schwere Übernahme zu blockieren. Oppositionsführer Ed Miliband sagte auf BBC, der Kauf dürfe nicht vollzogen werden, bis die Ermittlungen abgeschlossen seien. Notfalls werde er eine Abstimmung im Parlament erzwingen.

Bisher sind bei der Regierung mehr als 135 000 öffentliche Beschwerden gegen das Geschäft eingegangen.

Das letzte NoW-Exemplar erschien in einer Auflage von fünf Millionen statt der zuletzt gemeldeten 2,7 Millionen. Es bot die übliche Mischung aus Angeberei und hart recherchierten Geschichten aus der Welt mehr oder weniger bekannter Prominenter. Im Leitartikel fand der Skandal, der zur Schließung des Blatts führte, erst im 13. Absatz Erwähnung: "Es gibt keine Rechtfertigung für die entsetzlichen Missetaten." Am Ende der letzten Schicht verließ die 280-köpfige Belegschaft gemeinsam das Verlagsgebäude im Stadtteil Wapping. "Jetzt gehen wir ins Pub", verkündete Chefredakteur Colin Myler.

Die Redaktion verwies in der letzten Ausgabe stolz auf ihre 168 Jahre lange Geschichte. Schamlosigkeit, eine rotzfreche Schnauze, Neugierde auf die schmutzigen kleinen Geheimnisse der Oberschicht kennzeichneten das 1843 gegründete Blatt schon zu Queen Victorias Zeiten. George Orwell zufolge gehörte es zum Sonntagnachmittag der englischen Kleinbürger wie ein starker Tee und schlechte Luft im überheizten Wohnzimmer. "So englisch wie Roastbeef und Yorkshire-Pudding" sei NoW, schrieb der frühere Besitzer Sir William Carr im Spätherbst 1968 kurz vor seiner Entmachtung durch den jungen australischen Verleger Rupert Murdoch, der mit NoW sein internationales Imperium begründete. 42 Jahre lang, bis zuletzt, widmete der Patriarch dem Auflagen-Flaggschiff seines Konzerns detaillierte Aufmerksamkeit. Das Sex-Leben der Prominenz beschäftigte die NoW-Macher mindestens so sehr wie die kriminellen Machenschaften der Unterwelt - nicht umsonst hieß das Blatt im Volksmund "News of the Screws", zu Deutsch etwa: Bums-Bulletin.