Vor dem Staatsbesuch von Premier Wen Jiabao lässt Regime weiteren Dissidenten frei. Deutsche zählen zu bevorzugten europäischen Verbündeten.

Peking. Der Text besteht aus einer Schriftzeichen-Wüste von Tausenden Zeichen und versteckt sich auf Seite 22 des KP-Organs "Volkszeitung". So weit lesen nicht einmal die internationalen Nachrichtenagenturen das dröge Parteiblatt. Dabei würde es sich lohnen: Unter dem Titel "China und Deutschland - Erfolge und Perspektiven der Zusammenarbeit" hat Peking erstmals eine Regierungsbilanz über ein einzelnes europäisches Land veröffentlicht. Es preist den Austausch mit der Bundesrepublik als umfangreicher als mit jedem anderen Land - von der Kooperation der Bankenaufsicht, von Wissenschaft und Technologie bis zum Jugendaustausch. Peking ernennt die Deutschen - ihre größten Handelspartner, ihre wichtigsten Technologielieferanten und stärksten Investoren - kurzerhand zu ihren bevorzugten europäischen Verbündeten. Seit dem Besuch von Kanzlerin Angela Merkel im Juli 2010 sieht sich das Reich der Mitte in einer "strategischen Partnerschaft" mit Deutschland verbunden.

Hintergrund ist, dass Peking auf seiner politischen Weltkarte Europa neu gewichtet hat. Chinas Rivalitäten mit den USA, die im Südchinesischen Meer Flagge zeigen und Vietnam und den Philippinen beistehen, und Wirtschaftszwänge sind Gründe für die neue Hinwendung nach Europa. Die versteckte Botschaft, dass Peking auf Deutschland setzt, auch weil beide Länder sich in vielen Bereichen "komplementär" ergänzten, erschien schon am Freitag, als Premier Wen Jiabao gerade seine Reise nach Budapest, London und Berlin begann. Am heutigen Montag trifft der 69-Jährige auf der fünften Deutschlandreise seiner Amtszeit in Berlin ein. Gemeinsam mit 13 Pekinger Ministern wird Wen an der ersten gemeinsamen Kabinettsitzung mit Bundeskanzlerin Merkel und zehn deutschen Bundesministern teilnehmen.

Anders als für die Bundesregierung, die sich schon öfter mit den Regierungschefs von Frankreich, Russland, Israel, Indien und zuletzt von Polen zu erweiterten Kabinettsrunden traf, ist das Ganze für Peking ein Novum. "Wir haben einen so hochrangigen Dialog im Team noch nie mit einem anderen Land geführt", sagt Chinas Vizeaußenministerin Fu Ying. Sie stellt dem Weißbuch in der Parteizeitung ein Vorwort mit einem empathischen Plädoyer für ein starkes Europa und seine Währung voran, weil China beides brauche. "Wir werden den Euro weiter unterstützten", lautete auch die Botschaft, die Chinas Zeitungen als Hauptschlagzeile von Wens Besuch in Ungarn meldeten. Dort hatte der Premier angekündigt, in großem Umfang ungarische Staatsanleihen kaufen zu wollen.

In dem Weißbuch zieht China in 19 Kapiteln Bilanz über seine Kooperation mit Deutschland, von Militär und Sicherheit bis zur Entwicklungszusammenarbeit. In ihrer alten Form hat die 2010 beendete Entwicklungshilfe ihre Schuldigkeit getan, heute geht es vor allem um Klimaschutz. Ein Erfolg, so das Weißbuch, sei der Austausch der 80 Millionen Mitglieder zählenden Kommunistischen Partei Chinas über "ideologische Grenzen hinweg" mit deutschen Parteien, von der CDU/CSU bis zu den Grünen und Linken. Ein eigenes Kapitel ist dem seit 2000 bestehenden jährlichen Rechtsstaatsdialog gewidmet. Dort versteckt sich auch der einzige Halbsatz über Menschenrechte: Neben der Zusammenarbeit im Justizbereich gebe es auch einen "effektiven zum gegenseitigen Verständnis beitragenden Menschenrechtsdialog". Auf die internationale Kritik an Chinas sich dramatisch verschlechternde Menschenrechtsbilanz und der Feigenblatt-Funktion solcher Rechtsstaatsdialoge geht das Weißbuch nicht ein.

Peking hat gerade den seit 80 Tagen polizeilich verschleppten Künstler Ai Weiwei sowie vier seiner Mitarbeiter auf "Kaution" entlassen und am Sonntag auch den Sacharow-Preisträger Hu Jia nach dreieinhalb Jahren Haft entlassen. Der 37-jährige Aktivist Hu hatte in einem Internetblog Informationen über das Schicksal von Bürgerrechtlern gesammelt und die Korruption und das Versagen der kommunistischen Parteikader kritisiert. Außerdem setzte er sich für HIV-Infizierte und Aidskranke ein. Vor Gericht wurde ihm vorgeworfen, er habe mit Ausländern zusammenarbeiten wollen, um die Olympischen Spiele 2008 in Peking zu stören. Ende 2008 wurde Hu für seinen Einsatz für die Menschenrechte mit dem mit 50 000 Euro dotierten Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments ausgezeichnet. Er durfte nicht zur Verleihung nach Straßburg reisen. Die chinesische Regierung bezeichnete Hu in einer Reaktion auf die Preisverleihung als Kriminellen.

Sowohl Ai Weiwei als auch Hu Jia stehen nun unter strikten Polizeiauflagen, Kritiker nennen es auch einen illegalen Hausarrest: Ai darf Peking nicht verlassen und keine Auskunft über seinen Fall geben. Laut Hus Ehefrau Zeng Jinyan habe ihr Mann ein Jahr keine politischen Rechte und dürfe nicht zu den Medien sprechen. Die Entlassung beider wird in Peking in Zusammenhang mit den Besuchen Wens in London und Berlin gebracht. In beiden Hauptstädten hatte die Behandlung der beiden Regimegegner anhaltende Empörung ausgelöst.

Ein weiteres Kapitel im Weißbuch ist dem Schutz des geistigen Eigentums gewidmet, das erst 2008 von China als "nationale Strategie" Priorität erhielt. Peking weiß genau, dass westliche Ländern mit Produktpiraterie enorme Probleme haben, und bietet Deutschland eine erweiterte Zusammenarbeit zur Bekämpfung an. Als besonders ausbaufähiges Feld der Kooperation nennt das Weißbuch erneuerbare Energien. Deutschland war 2010 mit 142 Milliarden Dollar ein größerer Handelspartner Chinas als Großbritannien, Frankreich und Italien zusammen. Peking gesteht erstmals sein, dass deutsche Unternehmen mit Investitionen von real insgesamt 17,6 Milliarden Dollar über rund 20 Jahre und 7110 Projekten Europas größte Investoren in China sind. Entgegen landläufiger Meinung spielen hingegen chinesische Investoren in Deutschland nur eine geringen Rolle: Sie haben in den vergangenen gut zehn Jahren nur insgesamt 1,32 Milliarden Dollar investiert.