Die Strahlenbelastung um Fukushima steigt an. Japans Regierung empfiehlt Evakuierung einer 30-Kilometer-Zone - und entschuldigt sich.

Hamburg. Die Situation im japanischen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi hat sich offenbar dramatisch verschärft. Aufgrund der sehr hohen Werte von Radioaktivität, die aus der Anlage austreten, schloss die Betreiberfirma Tepco am Freitag nicht mehr aus, dass der Reaktordruckbehälter von Block 3 beschädigt ist. Im Kern von Reaktor 3 befinden sich Mischoxid-Brennstäbe (MOX), in denen neben Uran auch Plutonium - verarbeitet ist.

Behördensprecher Hidehiko Nishiyama sagte, es seien "gewisse Funktionen der Sicherheitshülle noch erhalten". Man habe jedoch "weit entfernt" von Reaktor 3 stark erhöhte Radioaktivität gemessen. Tepco räumte jedoch ein, dass man das Ausmaß der Schäden am Reaktor gar nicht genau kenne.

Der Schaden am Reaktorkern könnte entstanden sein, als eine Wasserstoffexplosion am 14. März die äußere Sicherheitshülle gesprengt hatte.

In der Anlage von Block 3 lagern 170 Tonnen Brennstäbe.

Falls tatsächlich der Reaktorkern beschädigt wurde oder gar eine Kernschmelze eingesetzt hat, wie einige Experten befürchten, dann würde die Radioaktivität noch erheblich ansteigen. Von den sechs in Fukushima stehenden Reaktoren sind derzeit drei bis fünf von einer Katastrophe bedroht.

Der Greenpeace-Atomexperte Karsten Smid sagte dem Hamburger Abendblatt: "Wir gehen davon aus, dass bereits ein einzelner Reaktor in Fukushima mehr als 200 000 Tera-Becquerel ausgestoßen hat - damit ist eindeutig Stufe 7 auf der INES-Skala erreicht." Insgesamt seien bislang etwa 500 000 Tera-Becquerel freigesetzt worden, sagte Smid. Becquerel ist eine Maßeinheit für die Zerfallsaktivität radioaktiver Stoffe; ein Tera-Becquerel ist eine Billion Becquerel. INES ist die Internationale Bewertungsskala für nukleare Ereignisse. Die Stufe 7 wurde bislang nur einmal zugeordnet: dem Unfall in Tschernobyl 1986. Er wurde mit einer Million Tera-Becquerel eingeschätzt.

Bislang hat Japans Atombehörde den Unfall in Fukushima auf Stufe 5 eingeordnet, schloss am Freitag aber nicht aus, auf Stufe 6 zu erhöhen.

"Man kann von einem schleichenden oder auch kontinuierlichen GAU in Fukushima sprechen", sagte Experte Smid. "Wir gehen von einer partiellen Kernschmelze aus - die Indizien sind eindeutig. Die hohe Jod- und Cäsiumbelastung weist darauf hin." Smid sagte, die Arbeiter in Fukushima hätten einen "Hochrisikojob", sie spielten mit ihrem Leben. Am Donnerstag hatten zwei Arbeiter im Block 3 Verbrennungen erlitten, als ihnen radioaktiv verseuchtes Wasser in ihre Schutzstiefel gelaufen war. Die Firma Tepco gab den Verstrahlten eine Mitschuld, weil sie bei ihrem Einsatz gegen Sicherheitsauflagen verstoßen hätten. Das Wasser, dem sie ausgesetzt waren, wies eine Strahlenbelastung von 3,9 Millionen Becquerel auf - pro Kubikzentimeter. Es ist eine um das 10 000-Fache erhöhte Dosis. Die japanische Regierung empfahl eine Evakuierung der betroffenen Region in einem Radius von 30 Kilometern um das Kraftwerk Fukushima. Eine 30-Kilometer-Schutzzone umgibt auch bis heute die Ruine des explodierten Atomkraftwerks Tschernobyl. Regierungssprecher Yukio Edano sagte, es sei denkbar, dass die Evakuierung angeordnet werde, falls die Strahlenbelastung in der betroffenen Region weiter ansteige.

Zum ersten Mal wandte sich Japans Regierungschef Naoto Kan mit einer Entschuldigung an sein Volk. "Wir sind nicht in einer Position, in der wir optimistisch sein können", sagte Kan und fügte hinzu, die Lage sei "äußerst unvorhersehbar". Der Regierungschef rief die Bürger zur Solidarität in "der schlimmsten Krise Japans seit dem Zweiten Weltkrieg" auf.

Die chinesischen Behörden stellten bei zwei Touristen aus Japan erhöhte Strahlenwerte fest - deutlich über den Grenzwerten, wie es hieß. Die beiden Japaner waren aus Tokio nach Wuxi nahe Shanghai gereist und werden dort jetzt medizinisch behandelt.

Auch in Deutschland wurden am Freitag zum ersten Mal radioaktive Partikel aus Fukushima nachgewiesen. Es seien aber nur "geringste Spuren", die "gesundheitlich unbedenklich" seien, versicherte das Bundesumweltministerium in Berlin. Es handle sich konkret um ein Tünftausendstel Jod pro Kubikmeter Luft. Auch in den USA, auf Island und in Schweden wurden bereits Partikel aus Fukushima entdeckt.

Die EU verständigte sich auf ihrem Gipfel in Brüssel auf einheitliche "AKW-Stresstests", wie Bundeskanzlerin Angela Merkel mitteilte. Das müsse "die Lehre aus Japan" sein.