Die WikiLeaks-Dokumente zeigen, dass Peking die Geduld mit dem störrischen Regime in Pjöngjang verloren hat

Hamburg. Nach den Enthüllungen der Internetplattform WikiLeaks glich das diplomatische Washington gestern einem aufgestocherten Ameisenhaufen. Von Außenministerin Hillary Clinton angefangen bis zu den Botschaftern der USA in aller Welt stand das Bemühen um Beruhigung der Betroffenen und Herunterspielen der Vorgänge - die bereits als "11. September der US-Diplomatie" etikettiert werden - im Vordergrund. Der US-Botschafter in Berlin, Philip Murphy, räumte ein, die Welt sei durch die Enthüllungen "komplizierter" geworden, aber "wir kehren zur Tagesordnung zurück".

Als erste Maßnahme hat das US-Außenministerium den Zugang staatlicher Computer zu seinen Akten gekappt. Auch das interne Netzwerk SIPRNet des US-Verteidigungsministeriums und der Streitkräfte wurde vorübergehend abgeklemmt. Das Netzwerk gilt als Hauptquelle für die jüngsten Enthüllungen.

Manches an den veröffentlichten diplomatischen Berichten ist einfach nur peinlich für Washington - aber nicht wenige der Dokumente sind von großer Brisanz. Vor allem jener Schriftverkehr, in dem es um die Konfliktherde Nordkorea und Iran geht, hat es in sich.

Nach einem Bericht des Londoner "Guardian" ist China inzwischen bereit, Nordkorea politisch aufzugeben. Peking ist der einzige Verbündete des stalinistischen Regimes in Pjöngjang, aber verliert offenbar die Geduld mit dem in Atomfragen störrischen und außenpolitisch aggressiv agierenden Nordkorea. So habe Chinas Vizeaußenminister He Yafei amerikanischen Regierungsbeamten gegenüber gesagt, Pjöngjang benehme sich "wie ein verzogenes Kind", dass mit seinen Raketentests unbedingt die Aufmerksamkeit eines Erwachsenen - gemeint sind die USA - auf sich ziehen wolle. Ein chinesischer Botschafter habe gewarnt, dass Nordkoreas Atomprogramm "eine Bedrohung für die Sicherheit der ganzen Welt" sei.

Dem südkoreanischen Vizeaußenminister Chun Yung-woo wurde von zwei hochrangigen chinesischen Regierungsvertretern gesagt, Korea solle unter der Führung Seouls wiedervereinigt und in einer "wohlwollenden Allianz" mit den USA verankert werden - und dass diese Ansicht in Chinas Führung immer mehr Anhänger gewinne.

Im Februar dieses Jahres sagte Chun Yung-woo in einem streng vertraulichen Gespräch der amerikanischen Botschafterin Kathleen Stephens, dass die jüngere chinesische Politiker-Generation Nordkorea nicht mehr als nützlichen oder verlässlichen Verbündeten betrachte und keinesfalls einen bewaffneten Konflikt auf der koreanischen Halbinsel riskieren wolle.

Chun, der inzwischen zum Nationalen Sicherheitsberater ernannt wurde, sagte, wirtschaftlich sei Nordkorea bereits kollabiert. Der politische Zusammenbruch erfolge, sobald Machthaber Kim Jong-il gestorben sei. Es sei sehr unwahrscheinlich, dass China in diesem Fall militärisch interveniere.

WikiLeaks enthüllt außerdem Berichte über den Gesundheitszustand Kim Jong-ils - nach einer südkoreanischen Einschätzung hat er noch "drei bis fünf Lebensjahre".

Aus den Depeschen geht überdies hervor, dass China eine wichtige Rolle als Mittler zwischen den USA und dem Iran spielt. Über den mächtigsten Mann im Iran, den geistlichen Führer Ajatollah Sajed Ali Khamenei, heißt es, er leide an Leukämie im Endstadium und habe nur noch einige Monate zu leben. Dieser Bericht stammt aber bereits aus dem August 2009. Eine ernsthafte Erkrankung Khameneis könnte sich auf die Gespräche der US-Regierung mit Teheran auswirken. Nach weiteren WikiLeaks-Berichten ist Khamenei bereit, mit Washington über die Ziele des iranische Atomprogramms zu reden - aber nicht Präsident Ahmadinedschad.

Eines der Dokumente bezieht sich auf ein Geheimtreffen amerikanischer und russischer Diplomaten Ende 2009. Die USA drückten dabei ihre Sorge aus, dass Nordkorea dem Iran Berichten zufolge 19 BM-25-Raketen geliefert habe, deren Reichweite zwischen 2500 und 4000 Kilometer betragen könne. Die Russen äußerten jedoch Zweifel an der Existenz dieser Mittelstreckenrakete. Die BM-25 sei wohl "eher ein Mythos".

Kein Mythos sind dagegen die 20 Atomwaffen, die die USA noch auf einer Basis in der Eifel bunkern. Wie bisher vermutet, sollen die Sprengkörper auf dem Fliegerhorst Büchel lagern, wo das Bundeswehr-Jagdbombergeschwader 33 stationiert ist. Dem Bericht zufolge gibt es weitere 20 Atombomben in Belgien nördlich von Hasselt und 20 im niederländischen Volkel bei Eindhoven.

WikiLeaks-Gründer Julian Assange kündigte derweil im Magazin "Forbes" an, er werde Anfang des Jahres für ein "Megaleak" sorgen - mit der Veröffentlichung Zehntausender oder gar Hunderttausender Dokumente über "ungeheuerliche Übertretungen" und "unethische Praktiken" seitens der Führung einer US-Großbank. Diese Enthüllungen eröffneten "wahre und repräsentative Einsichten, wie sich Banken auf der Managerebene verhalten". Man könne es "das Ökosystem der Korruption" nennen, meinte Assange.