In Deutschland wird HIV oft verharmlost. Die Welt-Aids-Konferenz beginnt am Sonntag. Täglich sterben 5500 Menschen an der Krankheit.

Hamburg/Wien. Es ist die Angst, die Hans W. zum Müllcontainer treibt. Wenn er im Urlaub ist, im Hotel oder in einer Ferienwohnung, wirft er die Verpackungen seiner Medikamente lieber draußen vor der Tür weg, deckt sie ab mit einer Plastiktüte, sodass sie niemand sieht. Im Papierkorb im Zimmer könnte sie die Putzfrau entdecken oder die Hausbesitzerin. Sie wüssten dann, dass er Aids hat. Und mit den Tablettenschachteln und Packungsbeilagen finden sie auch die diffuse Furcht vor einer Ansteckung, die Vorurteile und die diskriminierenden Klischees, mit denen Aidskranke auch heute noch in Deutschland konfrontiert sind. Nicht im Urlaub, sagt sich Hans W. dann immer. Da wolle er seine Ruhe haben. Abschalten. Weit weg von seiner Wohnung in der Hamburger Neustadt, weg vom Alltag in einer Großstadt, die von seiner Krankheit nichts erfahren soll. Nur ein guter Freund weiß, dass W. Aids hat, und noch ein Nachbar und sein Arzt.

Hans W. ist einer von 67 000 Menschen in Deutschland, die mit dem HI-Virus leben. Weltweit sind es 33,4 Millionen. Jeden Tag sterben etwa 5500 Menschen an der Krankheit - allein in den vier Wochen einer Fußball-WM verschwindet eine Stadt so groß wie Potsdam. Wenn am Sonntag in Wien die 18. Welt-Aids-Konferenz beginnt, werden die gut 20 000 Wissenschaftler, Politiker und Betroffene darauf drängen, dass der Kampf gegen Aids nicht nachlassen darf. Trotz der Erfolge. Denn es ist gelungen, die HIV-Neuinfektionen weltweit von drei Millionen 2001 auf 2,7 Millionen 2008 zu senken.

Der 62 Jahre alte Hans W. weiß seit 1995, dass er Aids hat. "Zwei Jahre haben mir die Ärzte damals noch gegeben", sagt er. Doch im Jahr darauf wurde in Vancouver die antiretrovirale Therapie vorgestellt. Die Medikamente können Aids zwar nicht heilen, aber die Vermehrung der Viren hemmen, der Körper kann wieder mehr Abwehrzellen produzieren. W. gehörte zu denen, die die neuen Medikamente getestet hatten, bevor sie auf den Mark kamen. Damals musste er 40 Tabletten am Tag schlucken im Kampf gegen die Krankheit. Heute sind es gerade noch vier. Die Medikamente wirken, der Virus ist im Blut von W. nicht mehr nachweisbar.

Das Uno-Aidsprogramm spricht von fünf Millionen Menschen, die heute mit Medikamenten behandelt werden. Aids ist kein Todesurteil mehr - wie noch vor einigen Jahren eine HIV-Infektion für Menschen der Entwicklungsländer bedeutete. Mittlerweile hat die Pharmaindustrie auf einen Großteil ihrer Patente verzichtet. Eine Therapie in Afrika kostet meist weniger als 200 Euro im Jahr. Die Zahl der Todesfälle in den Ländern südlich der Sahara bleibt seit Anfang des Jahrtausends konstant. Und dennoch wird Millionen Menschen die lebenswichtige Behandlung mit Medikamenten noch immer vorenthalten. Hilfsorganisationen befürchten nun, dass die Industrienationen im Zuge der Finanzkrise weniger Geld für Gesundheitsprogramme bereitstellen. Das würde vor allem Afrika treffen, denn dort leben fast 70 Prozent der weltweit mit HIV infizierten Menschen.

Doch vor allem in Osteuropa und Zentralasien breitet sich Aids ungebremst aus. Die Konferenz in Wien macht die Region zu ihrem Schwerpunkt. Zwischen 2001 und 2008 erhöhte sich dort die Zahl der Infizierten um 66 Prozent auf 1,5 Millionen Menschen. Nirgendwo steigen die Zahlen schneller. Besonders junge Heterosexuelle sind betroffen, die sich durch Sex oder vor allem beim Drogengebrauch über infizierte Spritzen anstecken. Fehlende Drogenprogramme wie Spritzentausch oder Ersatztherapie verschlimmern das Problem. Dazu kommen Ausgrenzung von Gesellschaft und Politik. Die Ukraine ist seit Jahren das europäische Land mit der höchsten Aids-Rate. Nach dem Ende der Sowjetunion fielen die Reisebeschränkungen, doch damit kamen auch die Drogen in das Land. In Osteuropa haben nur zehn Prozent der HIV-Positiven Zugang zu antiretroviralen Medikamenten. Doch auch in Ländern wie der Ukraine gibt es erste Erfolge, vor allem weil der Global Fund zur Bekämpfung von Aids inzwischen 230 Millionen Dollar in das Land investiert hat.

Ein Prozent der Erwachsenen in der Ukraine ist HIV-positiv. In Deutschland sind es weniger als 0,1 Prozent. Diese Zahl der Infektionen ist seit etwa drei Jahren stabil. Doch Experten warnen davor, die Krankheit zu verharmlosen. "Manche meinen, seitdem es Medikamente gibt, seien die Risiken geringer geworden", sagt Angelika Lahmann von der Aids-Seelsorge in Hamburg. "Aber noch immer gilt: HIV ist behandelbar, aber nicht heilbar."

Wer an Krebs erkrankt, bekommt Mitleid. Wer Aids hat, ist selbst schuld - es sind auch diese Vorurteile, die Betroffene in die Isolation treiben. Viele HIV-Positive outen sich nicht aus Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, aus Angst vor der Ablehnung durch die Familie und dem Verlust der Freunde. Hans W. wurde schon von seiner Familie ausgegrenzt, noch bevor es Aids überhaupt gab. Weil er schwul ist, wollten die Eltern nichts mehr mit ihrem Sohn zu tun haben. Als sein Vater starb, rief ihn die Mutter an und teilte W. mit, dass er auf der Beerdigung nicht erwünscht sei, erzählt W. "Was belästigen Sie mich dann mit solchen Bagatellen", habe er geantwortet. Seitdem ist der Kontakt zu seiner Familie abgebrochen. Sicher ist die Aids-Seelsorge kein Ersatz für die Familie, sagt W. Aber es ist einer der wenigen Orte, wo er offen über die Krankheit sprechen kann. Auch über die Ängste, die er hat im Umgang mit dem Virus. Veteranenfrühstück nennen sie ihr Treffen für langzeitpositive Männer. Man kann sich einfach mal auskotzen, wie er sagt. Das gibt Kraft. Im letzten Urlaub auf Rügen, erzählt er dann, habe er die leeren Verpackungen der Medikamente einfach in den Papierkorb geworfen.