Was wird aus dem riesigen Chemiewaffenarsenal ? Es könnte angesichts der zunehmenden Wirren in die Hände von al-Qaida fallen.

Hamburg. Der Konflikt in Syrien ist nach dem Ergebnis einer Uno-Untersuchungskommission "dramatisch eskaliert". Der Vorsitzende des von den Vereinten Nationen berufenen Gremiums, Paulo Pinheiro, sagte in Genf: "Keine Seite scheint mehr an eine politische Lösung zu glauben." Auch der Uno-Sondergesandte für Syrien, der frühere Uno-Generalsekretär Kofi Annan, meinte, die Zeit für eine friedliche Lösung laufe ab. Er hat die ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrats, den Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon und die Türkei zu einer Konferenz am Sonnabend in Genf über die Lage in Syrien zusammengerufen. Der Iran und Saudi-Arabien sind nicht eingeladen.

Wie Pinheiro weiter berichtete, würden die Regierungstruppen selbst bei Anwesenheit von internationalen Beobachtern ganze Wohnviertel mit Artillerie und Kampfhubschraubern einebnen. Zu den üblichen Methoden der Armee gehörten auch Scheinhinrichtungen und schwerste Folter. Nach Uno-Erkenntnissen werden Kinder als lebende Schutzschilde eingesetzt. Aber auch die Rebellen gehen immer brutaler vor.

Der Uno-Kommission nach haben die Gefechte, die auf immer mehr Landesteile übergreifen, inzwischen den Charakter eines "nicht-internationalen bewaffneten Konfliktes" angenommen. Im Klartext: Es liegt ein Bürgerkrieg vor. Wie zum Beweis dieser Aussage kam es gestern in den Vororten der Hauptstadt Damaskus zu den bislang heftigsten Gefechten. Der als regierungsnah geltende Fernsehsender Ichbarija 20 Kilometer außerhalb der Stadt wurde von Rebellen gestürmt und mit Sprengsätzen teilweise zerstört. Sieben Menschen wurden dabei getötet.

Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind in dem seit 16 Monaten tobenden Konflikt bislang mehr als 10 000 Menschen ums Leben gekommen, die meisten davon Gegner des Regimes von Präsident Baschar al-Assad. Die Opposition in Syrien geht von mindestens 15 000 Toten aus. Assad hat zum ersten Mal davon gesprochen, dass sich sein Land in einem "echten Krieg" befinde. Nach Ansicht der US-Geheimdienste herrscht zwischen der Armee Assads und den Rebellenstreitkräften, die sich auf eine Guerillataktik verlegt haben, derzeit ein militärisches Patt. Die Rebellen, die moderne Waffen von arabischen Staaten erhalten, werden auf 12 000-15 000 Kämpfer geschätzt. Die syrische Armee umfasst rund 380 000 aktive Soldaten, hinzu kommt eine Reserve von rund 130 000 Mann und eine 400 000 Mann starke Miliz.

"Das Regime glaubt immer noch, gewinnen zu können", sagte ein US-Geheimdienstbeamter dem Sender CNN, "aber zugleich bereitet sich die Opposition auf einen langen Kampf vor." Assads Armee sei bislang kaum geschwächt durch Desertionen.

Der syrische Konflikt ist nicht nur so brandgefährlich durchs Syriens starke Armee, sein Bündnis mit dem Iran, die engen Beziehungen zu Russland sowie die Verbindung zur Terrorgruppe Hisbollah.

Die allergrößte Gefahr geht von Assads Chemiewaffenarsenal aus, das von manchen Experten wie dem stellvertretenden israelischen Generalstabschef Jair Naveh als das größte der Welt bezeichnet wird. Als einer von nur sechs Mitgliedstaaten der Uno hat Syrien nicht die Chemiewaffenkonvention von 1992 unterzeichnet. Das Land stellt pro Jahr vermutlich mehr als 100 Tonnen Kampfstoffe her und kann diese Substanzen mit Flugzeugen, Artillerie sowie Tausenden Raketen der Typen Scud B, C, D und SS-21 einsetzen. Das Regime in Damaskus verfügt nach westlichen Erkenntnissen über riesige Bestände an Sarin, Tabun, Senfgas und VX. Letzteres gilt als tödlichste Chemiewaffe; winzige Mengen, über die Haut aufgenommen oder eingeatmet, führen zu einem qualvollen Erstickungstod.

Es wird befürchtet, dass Assad diese Waffen gegen Oppositionelle einsetzen könnte, wie dies der irakische Präsident Saddam Hussein im März 1988 im kurdischen Halabdscha getan hatte. Dabei kamen Sarin und VX per Flugzeug zum Einsatz. 5000 Menschen starben sofort, Tausende später an den Folgen.

Möglich wäre auch der Einsatz gegen eine Interventionsstreitmacht der Uno. Oder das Arsenal könnte in den Wirren eines Endkampfs zwischen Regime und Rebellen an Hamas, Hisbollah oder gar al-Qaida fallen. Diese Gefahr schätzt die israelische Regierung als ebenso dramatisch ein wie das iranische Atomprogramm.

Bezeichnenderweise gehören die Städte Homs und Hama, in denen die syrische Armee Massaker an der Zivilbevölkerung angerichtet hat, zu den fünf bislang identifizierten Hauptproduktionsstätten. Mehr als 40 weitere Produktions- und Lagerstätten kommen hinzu. "Syrien ist ein chemisches Pulverfass, das jederzeit explodieren kann", hieß es in einem Bericht der US-Denkfabrik James Martin Center for Nonproliferation Studies, die zum Thema Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen forscht.

Wie die "Washington Post" meldete, haben der US-Geheimdienst CIA und die Kommandoeinrichtung für den Einsatz der US-Spezialeinheiten JSOC bereits Pläne ausgearbeitet, um notfalls raschen militärischen Zugriff auf das syrische Chemiewaffenarsenal zu ermöglichen. An den Operationsplänen sollen mehrere Staaten, darunter Israel und Jordanien, beteiligt sein. Nach US-Schätzungen müsste man bis zu 75 000 Soldaten einsetzen, um Syriens Arsenal der Apokalypse zuverlässig zu schützen.