Türkeis Ministerpräsident hebt den Streit mit dem Nachbarn auf neue Ebene. Nato macht politische, aber keine militärischen Zusagen an Ankara.

Brüssel/Istanbul. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat die Krise um den Abschuss eines türkischen Kampfflugzeugs durch die syrische Luftabwehr auf eine neue Ebene gehoben. "Die Rache der Türkei wird fürchterlich sein", sagte er vor Abgeordneten der Parlamentsfraktion seiner Regierungspartei, der AKP. Der Abschuss der türkischen Maschine sei ein "feindlicher Akt" gewesen. Seine Wortwahl schien die Wahrscheinlichkeit einer militärischen Reaktion der Türkei zu erhöhen. Konkret sagte Erdogan, die Türkei habe ihren Streitkräften befohlen, ab sofort auf "bedrohliche" syrische Ziele ungefragt zu feuern. In den vergangenen sechs Monaten, so Erdogan, sei es fünfmal zu Verletzungen des türkischen Luftraums durch syrische Hubschrauber gekommen. Seine Worte schienen zu bedeuten, dass die Türkei in solchen Fällen künftig das Feuer eröffnen will. Möglicherweise sogar auch auf Ziele, die sich auf syrischem Gebiet befinden, aber als "Bedrohung" empfunden werden.

Wie stark Ankara die internationale Gemeinschaft in seine Konfrontation mit Syrien ziehen kann, bleibt indessen abzuwarten. Zwar fand Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen gestern klare Worte, nachdem sich der Nato-Rat in Brüssel zu einer von der Türkei beantragten Dringlichkeitssitzung getroffen hatte. Der Abschuss der türkischen F-4 sei nicht hinnehmbar "und ein weiteres Beispiel für die Missachtung internationaler Normen, Frieden, Sicherheit und menschlichen Lebens" durch Syrien. Die Sicherheit aller Nato-Partner sei unteilbar, die Allianz werde die Situation an ihrer südöstlichen Grenze "genau verfolgen" und versichere die Türkei ihrer Solidarität. Soll heißen: Die auf Grundlage von Artikel 4 des Washingtoner Vertrags einberufenen Konsultationen gehen weiter. Für den Moment gibt es aber keine Pläne, dass die Nato die Türkei militärisch unterstützt, wie es 2003 am Vorabend des Irak-Kriegs mit dem Einsatz einer Awacs-Patrouille geschah. Fast alle28 Botschafter hätten in der Konferenz vorgetragen, so berichteten Nato-Diplomaten. Keiner aber habe auch nur ein Wort über eine internationale militärische Intervention verloren.

Rasmussen machte klar, er erwarte von Präsident Baschar al-Assad und seiner Regierung, "alle notwendigen Schritte zu unternehmen, damit solche Vorfälle in Zukunft nicht mehr vorkommen". Aber auch wenn sich die Spannungen zwischen Syrien und der Türkei weiter verschärfen, rechnet in Brüssel derzeit niemand mit einem Artikel-5-Szenario: dass die Nato tatsächlich auf Anforderung Ankaras eingreift. Die Beurteilung, dass eine Intervention in Syrien einen Flächenbrand in der Region auslösen könnte, wird sowohl auf Nato- als auch auf EU-Ebene geteilt. Zudem wird sich die US-Regierung als Führungsmacht angesichts der bevorstehenden Wahlen auf ein solches Unternehmen nicht einlassen. Dazu kommt, dass der Westen es in Syrien nicht - wie in Libyen - mit einer einigermaßen geeinten Widerstandsbewegung gegen Assad zu tun hat.

Klar ist nach den Nato-Konsultationen aber, dass die Türkei erfolgreich die formale internationale Debatte über den Umgang mit Damaskus erweitert hat. Im Uno-Sicherheitsrat steckt die Frage, was endlich gegen das Blutvergießen in Syrien getan werden kann, seit Monaten wegen des Widerstands Russlands und Chinas fest. Ankara wandte sich aber nun, neben dem Appell an die Nato-Partner, in einem Brief an Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon. Erdogans Regierung wirft den Syrern darin den bewussten Abschuss des Aufklärungsjets vor, forderte aber kein militärisches Eingreifen. Doch die Option dazu schwebt nun auf allen internationalen Ebenen über Damaskus.

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Die F-4 ist Erdogan zufolge über internationalen Gewässern abgeschossen worden. Die genauen Umstände des Vorfalls sind jedoch weiter unklar, und die türkische Darstellung hat sich seit Freitag mehrfach geändert. Syrien behauptet, die türkische Maschine sei direkt vor der Küste abgeschossen worden, und zwar von einem konventionellen Flak-Geschütz mit nur 2,5 Kilometer Reichweite. Das würde die türkische These von einem Abschuss im internationalen Luftraum ausschließen. Zur Untermauerung ihrer Argumente sollen nach Angaben des türkischen Publizisten Murat Yetkin die Syrer denTürken Trümmerteile gezeigt haben, angeblich von der abgeschossenen Maschine, mit Kugeleinschlaglöchern. Auch die Türkei hat laut Yetkin Trümmerteile präsentiert, die angeblich Brand- und Explosionsspuren aufwiesen. Ankara geht daher von einem Abschuss durch eine Rakete aus.

Von türkischer Seite hatte es zunächst geheißen, die Maschine sei "aus Versehen" in den syrischen Luftraum eingedrungen. Sie sei jedoch erst über internationalen Gewässern getroffen worden. Gestern sagte Erdogan jedoch, das Flugzeug sei vor dem syrischenHoheitsgebiet getroffen worden, aber in den zwei Minuten, die vom Treffer bis zum Aufschlag vergingen, in den syrischen Luftraum geraten. Ungeklärt ist auch, warum die Maschine - nach türkischer Darstellung - volle fünf Minuten im syrischen Luftraum verbrachte. Das ist insofern rätselhaft, als der Flug nach Ankaras Darstellung dem Test türkischer Radarsysteme dienen sollte. Entweder sind diese Systeme so schlecht, dass sie den Kursfehler erst nach fünf Minuten entdeckten, oder Ankara ist eine Erklärung schuldig, warum der Umkehrbefehl so spät erfolgte.

Die syrische Seite hat erklärt, nicht gewusst zu haben, dass das Flugzeug türkisch sei. Andere Möglichkeiten wären aus syrischer Sicht gewesen, dass es sich um ein israelisches Flugzeug handelte oder um eine syrische Maschine, die von einem Deserteur geflogen wurde. Zu einem solchen Vorfall war es erst kurz zuvor gekommen.