Bei der Präsidentenwahl am Sonntag in Russland wird er vermutlich wieder siegen. Aber seine Popularität ist deutlich gesunken. Eine Analyse.

Moskau/Hamburg. Für den britischen Kriegspremier Winston Churchill, der bisweilen selber zwischen radikalem Sozialreformer und militantem Imperialisten fluktuierte, war Russland "ein Rätsel innerhalb eines Geheimnisses, umgeben von einem Mysterium". Dieses Riesenreich, das aus der mittelalterlichen Keimzelle des "Kiewer Rus" zur waffenstarrenden Supermacht emporstieg, um dann dröhnend zusammenzubrechen, ist auch ein Dreivierteljahrhundert nach Churchills Befund für den Westen noch weitgehend eine Blackbox - ein fremdartiges System, dessen innere Funktionsvorgänge dem Auge verborgen bleiben.

Die Präsidentenwahl am kommenden Sonntag wird das politische Schicksal Russlands für die nächsten sechs oder gar zwölf Jahre bestimmen. Dass Wladimir Putin an den Urnen siegen wird, gilt Umfragen nach als ziemlich sicher; die in der Geschichte moderner Staaten beispiellose Ämter-Rochade mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten und Noch-Präsidenten Dmitri Medwedew soll abgeschlossen werden. Es wirkt wie der angekündigte Tod der demokratischen Glaubwürdigkeit: Ein machthungriger Präsident tauscht, zähneknirschend der Verfassung gehorchend, für eine Legislaturperiode die Position mit dem ihm ergebenen Premier - um dann wieder das Spitzenamt übernehmen zu können, dessen künftige Dauer er noch rasch von vier auf sechs Jahre hat verlängern lassen.

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Putin, der gern mal mit nackter Brust als Tundra-Macho posiert, ist allerdings nicht mehr annähernd so populär wie noch vor einigen Jahren. Die Großdemonstrationen und Menschenketten etwa in Moskau mit Zehntausenden Teilnehmern - ein Novum in der jüngeren Geschichte des Landes - zeigen, wie unzufrieden viele Russen mit ihrem Lebensstandard sind. Nicht wenige glauben, dass Putin die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat, dass er krampfhaft an obsolet gewordenen Rezepten festhält.

Putin setzt unverdrossen, geradezu in alter Sowjetmanier, auf die Strahlkraft von Patriotismus und schimmernder Wehr. In einem Leitartikel für das ihm zwangsläufig gewogene Amtsblatt "Rossijskaja Gazeta" schrieb er, dass er in den kommenden zehn Jahren umgerechnet fast 600 Milliarden Euro für Abertausende Raketen, Panzer, Kampfflugzeuge und U-Boote ausgeben wolle. Man mag daran zweifeln, dass so viel Geld tatsächlich zur Verfügung steht, doch Putin ließ keinen Zweifel daran, dass diese "beispiellose Aufrüstung" gegen den Westen gerichtet sei, dem es nämlich nach Russlands Ressourcen gelüsten könnte. Auch sei sie notwendig, um das von den USA und der Nato projektierte Raketenabwehrsystem zu konterkarieren.

Dieses umstrittene System, dessen Hauptquartier Ramstein werden soll, richtet sich angeblich gegen anfliegende Mittelstreckenraketen aus dem Nahen und Mittleren Osten. Als ein ARD-Reporter Putin mit dieser These kam, brach der vor laufender Kamera in Hohngelächter aus: "Sie haben mich zum Lachen gebracht. Gott segne Sie." Putin glaubt vielmehr, dass Washington diese Abfangsysteme installieren wolle, um Russlands offensive Fähigkeiten zu mindern und die eigene Unverwundbarkeit sicherzustellen. Ein Argument, das nicht völlig von der Hand zu weisen ist. Washingtons Russlandpolitik ist jedenfalls von Misstrauen bestimmt.

Die Amerikaner unterschätzen dabei allerdings sträflich das gefährliche Gefühl der Erniedrigung, das die Russen seit dem Zerfall der Sowjetunion quält. Am 25. Dezember 1990 habe eine ganze Epoche geendet, schrieb George Friedman, Chef des privaten US-Geheimdienstes Stratfor, in einer Analyse. Als an diesem Tag die Sowjetunion zusammenbrach, sei damit zum ersten Mal seit fast 500 Jahren kein europäischer Staat mehr eine globale Macht. Aus der bipolaren Welt des Kalten Krieges ist eine multipolare geworden. Die Dinge sind im Fluss - in Asien, in Europa, am Persischen Golf.

Russland muss seine Position in diesem Prozess neu finden, sich sogar als Nation nahezu neu erfinden. Die Sowjetunion hatte den Bürgern des kommunistischen Riesenreiches durchaus als Identifikationsanker dienen können; seit 1990 kämpft nun der Rechtsnachfolger Russland um eine stringente Nationalidentität.

Am liebsten würde Wladimir Putin jene Zeiten seines Vorgängers Boris Jelzin ungeschehen machen, als die Welt weder den Trunkenbold im Kreml noch das ganze Russland sonderlich ernst nahm. Der Niedergang der einst so mächtigen russischen Armee; die früher gefürchtete, jetzt in Murmansk vor sich hin rostende Flotte, der Untergang des Unterwasser-Atomkreuzers "Kursk", der Brand des Moskauer Fernsehturms Ostankino - das alles waren weltweit sichtbare Symptome für den Verfall eines Imperiums. Putin hat ihn mit seiner rigorosen "gelenkten Demokratie" teilweise stoppen können. Jetzt greift er erneut nach dem verlorenen Supermachtstatus.

Aber dieser Rang ist nicht allein abhängig vom Waffenarsenal. Die Modernisierung der russischen Wirtschaft stagniert, die schier unglaubliche Korruption im Lande blüht hingegen ebenso ungehindert weiter wie die organisierte Kriminalität. Und die Liberalisierung des politischen Systems ist stecken geblieben wie die Reform des Justizapparats. Vor allem aber fiel das hauptsächlich auf Rohstoffexporte ausgerichtete russische Wirtschaftssystem, das 2007 noch beeindruckend prall daherkam, ein Jahr später im Zuge der Finanz- und Bankenkrise in sich zusammen wie ein Soufflé.

Das hat vor allem die russische Mittelklasse getroffen, die es in der Sowjetunion noch gar nicht gab und deren gesellschaftliche Ausformung - vor allem aufgrund der Öl- und Gasreichtümer des Landes - gerade erst begonnen hatte. Diese Mittelklasse hat sich inzwischen teilweise ernüchtert von Putin abgewandt und demonstriert nun auf den Straßen gegen ihn.

Russlands Neupositionierung im Konzert der Mächte soll nach Putins Willen offenbar in scharfer Abgrenzung zum Westen stattfinden. Während Medwedew als Zwischenzeit-Präsident noch Ansätze zur Kooperation erkennen ließ, zimmert Putin emsig an einem neuen Feindbild. So neu ist es aber nicht. "Wir wissen jetzt, dass wir keine Europäer sein können, dass wir nicht imstande sind, uns in eine der westlichen Lebensformen zu pressen, die Europa aus seinen eigenen nationalen Prinzipien heraus geschaffen hat und erlebt hat. Prinzipien, die uns fremd und zuwider sind", schrieb der große russische Schriftsteller Fjodor M. Dostojewski ("Der Idiot", "Die Brüder Karamasow") bereits im 19. Jahrhundert. Ein Zeitgenosse Dostojewskis, der Kulturhistoriker Nikolai J. Danileski, meinte, Russland sei "seiner inneren Wesensart nach der europäischen Welt fremd". Und da es auch viel zu stark sei, um ein Mitglied der europäischen Großmachtfamilie zu sein, müsse es selbstständig bleiben und Europa "als Gegengewicht" dienen. Solche Sätze könnten aus dem Munde Putins stammen, der den Zusammenbruch der Sowjetunion noch 2004 als "nationale Tragödie" beklagt hatte.

Man muss einräumen, dass die westlichen Staaten, namentlich die USA, Russland mit der Feinfühligkeit eines Mähdreschers behandelt haben. So gilt es als historisch gesichert, dass der Westen - zumindest in Gestalt des damaligen deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher - Moskau zusicherte, nach einer deutschen Wiedervereinigung werde die Nato natürlich keinesfalls nach Osten erweitert. Um diese mündliche, nirgendwo schriftlich festgehaltene Zusage dann eiskalt zu brechen. Nun will die Nato amerikanische Raketen vor die russische Haustür stellen. Dass auch noch die Ukraine Nato-Mitglied werden soll, scheiterte zunächst nur am Widerstand ihres jetzigen prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch.

Russland leidet an einem ähnlichen Phantomschmerz wie die Türkei nach dem Zusammenbruch des gewaltigen Osmanischen Reiches, das sich auf das türkische Kerngebiet reduzierte. Noch immer ist das mehr als 17 Millionen Quadratkilometer und acht Zeitzonen umfassende Russland mit Abstand die größte Nation der Erde, ist fast so groß wie Kanada und die USA zusammengenommen. Und doch existiert Russland heute auf seiner kleinsten territorialen Ausdehnung seit der Zeit des Zaren Peter der Große (1672-1725). In nationalistischen Kreisen gärt das brennende Verlangen, wenigstens die Ukraine, Weißrussland und die Baltenstaaten wieder einzugemeinden. Putin strickt an einer "Eurasischen Union", die bis 2015 aus der Taufe gehoben werden soll - nicht nur dem Namen nach ein Gegengewicht zur Europäischen Union.

Der Westen hat Russland nach 1990 oft wie ein besiegtes Land behandelt; und genau so blicken die konservativen Kräfte in den USA auch auf Moskau - als den Verlierer des Kalten Krieges. Ungerührt schickte Washington 2008 Truppen in den Kaukasus, wo ein Krieg zwischen Georgien und Russland tobte. Der damalige US-Präsidentschaftskandidat John McCain entblödete sich nicht, ausgerechnet zu diesem heiklen Zeitpunkt die Aufnahme Georgiens in die Nato zu fordern. Längst hat das amerikanische Außenministerium damit begonnen, die Anti-Putin-Kräfte in Russland aktiv zu unterstützen - ein riskantes Manöver.

Der frühere KGB-Agent Putin ist alles andere als naiv, ihm ist fraglos bewusst, dass Russland derzeit nicht in der gleichen Liga spielt wie die USA, China oder die EU. Seine einzigen Trümpfe sind die Energieressourcen und das restaurierte Militär samt Atomarsenal, das noch immer das größte der Welt ist. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging es dem Kreml für einige Jahre vor allem darum, die Position Russlands in der Welt nicht noch weiter verfallen zu lassen. Der Kurs, den Putin eingeschlagen hat und fraglos weitersteuern wird, ist als "Mehrvektorenpolitik" beschrieben worden: Schulterschluss mit dem Westen, wo es Moskau dient - Konfrontation, wo Russland Vorteile wittert. Ein Beispiel für die erste Option ist die Solidarität Moskaus nach den Anschlägen vom 11. September 2001; ein Beispiel für die zweite wäre Moskaus Blockade-Verhalten in der Syrien-Krise.

Bei seinem Amtsantritt als Präsident hat Putin ein marodes Land übernommen und es mit harter Hand teilweise stabilisiert. Dazu bediente er sich, wie Stratfor in einer anderen Analyse darlegte, zweier "Clans", die sich im Kreml bildeten: der weitgehend aus Ex-Geheimdienstlern und Militärs bestehenden Falken-Fraktion "Silowiki" und ihres liberalen, zivilgesellschaftlichen Gegenparts "Civiliki". Die lange dominierenden Silowiki strebten ein autoritär geführtes, weltweit offensiv auftretendes Russland an - zulasten von Bürgerrechten. Die Civiliki legten mehr Betonung auf soziale Bedürfnisse und eine liberalere Gesellschaft. Putin habe jahrelang mit beiden rivalisierenden Kräften jongliert. Doch diese Clans seien im Zuge der Finanzkrise und mit dem Aufkommen einer starken Anti-Kreml-Bewegung implodiert, in etliche Gruppen zersplittert und damit als Machtinstrumente für Putin weitgehend wertlos geworden.

Als künftiger Präsident habe Putin nun die Aufgabe, sich ganz neue Führungsmechanismen zu schaffen. Und er sehe sich dabei einem Wiedererstarken der Kommunisten sowie einem wachsenden Widerstand aus den Reihen der eigenen Bevölkerung gegenüber.

Wladimir Putin kann es sich nicht erlauben, innenpolitisch Schwäche zu zeigen - aber auch nicht, mit der Konsolidierung seiner Machtbasis zu viel Zeit zu verlieren. Denn die Herausforderungen für Russland auf internationaler Ebene sind enorm. Manche bewerten Putin daher im Falle seines Wahlsieges als bloßen Übergangspräsidenten: Sofern er an seinen alten Rezepten festhält, werde er bald scheitern.