Libyer feiern auf dem Märtyrer-Platz in Tripolis und auf dem Freiheitsplatz in Bengasi, wo der Aufstand seinen Anfang genommen hat.

Tripolis. Mit Kundgebungen hat die libysche Bevölkerung am Freitag den ersten Jahrestag des Volksaufstandes gegen den langjährigen Machthaber Muammar Gaddafi begangen. Singende und fahnenschwingende Menschen versammelten sich auf dem Märtyrer-Platz in der Hauptstadt Tripolis und dem Freiheitsplatz in Bengasi, wo die Erhebung gegen Gaddafi am 17. Februar 2011 ihren Ausgang genommen hatte. Wohnhäuser und Autos waren mit Fahnen in den Farben rot, schwarz grün geschmückt. Doch in den lauten Jubel über den Sturz Gaddafis, der nach seiner Gefangennahme im Oktober getötet wurde, mischten sich angesichts der problematischen Sicherheitslage und der Unordnung auch nachdenkliche Töne.

+++Gaddafi: Volksschlächter und Überlebenskünstler+++

Der regierende Nationale Übergangsrat (NTC) hatte aus Respekt vor den vielen Opfern des achtmonatigen Machtkampfes auf landesweite Jubelfeiern verzichtet. Gleichwohl wurde NTC-Chef Mustafa Abdel Dschalil zu einer Kundgebung in Bengasi erwartet.Die fast völlig in Trümmern liegende Wohn- und Kommandozentrale Gaddafis war mit Fahnen des Übergangsrats geschmückt. In einige nicht zerstörte Gebäude sind obdachlose Familien eingezogen. „Früher war er alles, und das Volk war schwach“, sagte eine Mutter dreier Kinder über Gaddafi. „Jetzt sind alle gleich.“

„Trotz aller Probleme im Land ist es ein toller Tag, den wir feiern wollen“, zog die 22-jährige Ingenieurstudentin Sarah eine positive Bilanz der Revolution, in welche die Nato mit Luftangriffen zugunsten der damaligen Rebellen eingegriffen hatte. In einem Jahr sei viel erreicht worden. In der Tat hat sich die Lage für viele Libyer verbessert. Doch der Aufbau eines demokratischen Staates erweist sich als schwierig. Und der NTC hat seine Autorität bislang noch nicht in jeden Winkel Libyens ausgedehnt. Dieses Machtvakuum haben viele Milizen ausgefüllt. Deren bis an die Zähne bewaffnete Kämpfer beteuern zwar ihre Loyalität mit dem NTC, im Zweifel hören sie aber nur auf ihre Kommandeure, die oft genug mit anderen Milizenchefs um Macht und Einfluss konkurrieren.

Auch der Hochschullehrer Essieddin Agiel freut sich ein Jahr nach Beginn des Volksaufstandes über dessen Erfolg. Doch ihn ängstigt die Schwäche der politischen Institutionen. „Das kann zu gewaltigen Problemen für Libyen führen, die schwer zu kontrollieren sein dürften“, warnt Agiel. Der regierende Übergangsrat macht unbelehrbare Gaddafi-Anhänger für die Schwierigkeiten im Land verantwortlich. Doch die größten Gefahren kommen vier Monate vor der Wahl im Juni womöglich von frustrierten Revolutionären. Einen Vorgeschmack darauf bekam im Januar Regierungschef Abdel Dschalil in Bengasi zu spüren: Eine wütende und Flaschen werfende Menge hielt dem NTC Verrat an den Werten der Revolution vor, weil er ehemalige Gaddafi-Gefolgsleute beschäftige und nicht genug Klarheit über die Verwendung der Öleinnahmen schaffe.