Ultraorthodoxe bespucken Frauen und erzwingen Geschlechtertrennung. In dem jungen Staat, stolz auf seine Modernität, entbrennt ein Kulturkampf.

Die junge Soldatin Doron Matalon war nach ihrer Nachtschicht in einem öffentlichen Bus in Jerusalem auf dem Heimweg, als ein ultraorthodoxer Mitfahrender - erkennbar an Hut, langem Bart und Schläfenlocken - sie anherrschte: "Setz dich nach hinten, Schickse, schäm dich!" Schickse, jiddisch, heißt nicht jüdisches Mädchen, aber auch Flittchen. Matalon blieb sitzen. Auch Tanja Rosenblit ließ sich nicht einschüchtern, obwohl sie im Bus nach Jerusalem von rund 20 ultraorthodoxen Talmudschülern nach hinten verwiesen wurde. Nachdem die 28-Jährige ihr beängstigendes Erlebnis auf Facebook gepostet hatte, berichteten Zeitungen landesweit.

Aber erst der Fall der achtjährigen Naama Margolese sorgte für einen öffentlichen Aufschrei. Das kleine Mädchen mit Brille und Ponyfrisur wurde Ende Dezember auf dem Weg zu seiner religiösen Mädchenschule von einer Gruppe Ultraorthodoxer angespuckt und beschimpft, weil es "unangemessen" gekleidet sei. "Wenn ich morgens zur Schule gehe, bekomme ich jetzt immer Bauchweh", sagte Naama im israelischen Fernsehen. Ihre neu eröffnete Schule liegt in Beit Schemesch westlich von Jerusalem, wo überwiegend Ultraorthodoxe wohnen. Naama stammt selbst aus einer sehr frommen, aber nicht ultraorthodoxen Familie.

Mit Transparenten wie "Dies ist nicht Teheran" demonstrierten mehrere Tausend empörte Israelis daraufhin in Beit Schemesch gegen die Diskriminierung von Frauen und Andersdenkende durch religiöse Fanatiker. Zu der Kundgebung rief sogar Staatspräsident Schimon Peres auf: "Wir kämpfen für das Herz der Nation und um den Kern des Staates." Umgehend setzten sich die Ultraorthodoxen gegen die ihrer Meinung nach feindseligen und pauschalisierenden Presseberichte zur Wehr - mit einem eigenen Paukenschlag: Am Silvestertag protestierten mehrere Hundert von ihnen in Jerusalem in KZ-Häftlingskleidung und mit gelben Judensternen an den Mänteln. Sie wollten damit zeigen, dass sie sich von der Mehrheitsgesellschaft inzwischen so diskriminiert fühlen wie unter Nazis.

Die sozialen Probleme wachsen

Kaum ein Thema ist in Israel derzeit so virulent wie die Rolle der Ultraorthodoxen in einer Gesellschaft, die sich stolz als moderne Demokratie versteht. Die Haredim (etwa: die in der Furcht Gottes Lebenden), wie die Ultraorthodoxen sich nennen, sind mit ihrer Kleidung die auffälligste Gruppe, aber viele säkular eingestellte Israelis wissen wenig über sie und wollen auch nichts wissen. Sie finden es unfassbar: Ihr Land wurde von zionistischen Männern und Frauen gegründet, es wählte 1969 mit Golda Meir die erste Premierministerin des Nahen Ostens. Und nun sollen manche Wohnorte für Frauen und Säkulare zu No-go-Areas werden. Während in Tel Aviv und Haifa die Spaßgesellschaft tobt, sind in Ballungsgebieten der Ultraorthodoxen Werbeplakate mit Frauenbildern verbannt, werden Geschlechtertrennung an Supermarktkassen, in Verkehrsmitteln und auf Straßen praktiziert, Filme verboten, Webseiten blockiert. Es geht ein unsichtbarer Riss durch das Land.

Die Lebenseinstellung der Haredim - die Befolgung der religiösen Gebote in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter - lehnt sich an die der chassidischen Juden in Osteuropa an. Sie sehen sich als Hüter der jüdischen Tradition, die durch den Holocaust fast ausgelöscht wurde - die Wahl der KZ-Häftlingsanzüge bei der Protestaktion am 31. Dezember war nicht zufällig. Mittelpunkte des Alltags sind die Jeschiwot (Talmudschulen), in denen die Männer das Wort Gottes studieren und auslegen, und die Familien. Die Geburtenrate liegt mit 7,6 Kindern pro Frau ebenso hoch wie die von Palästinenserinnen im Gazastreifen. Nur 40 Prozent der Haredim gehen einer bezahlten Arbeit nach. Die Mehrzahl der Familien lebt von staatlichen Transferleistungen, rund 60 Prozent an der Armutsgrenze.

Milliarden-Zuschüsse fließen jährlich in ihre religiösen Schulen, in Wohnungsbauprogramme für ihre schnell wachsenden Familien. Sie können sich vom Wehrdienst befreien lassen. Bei den säkularen Israelis gelten die Ultraorthodoxen deshalb als Schnorrer. Ein Witz macht die Runde: Ein Drittel der Israelis zahlt Steuern, ein Drittel leistet Wehrdienst, ein Drittel arbeitet - nur ist es immer dasselbe Drittel.

Weil aber keine Regierung auf die Koalition mit den konservativ-religiösen Parteien verzichten kann, ist es allein Israels Oberster Gerichtshof, der die Ultraorthodoxen immer wieder in die Schranken weisen soll. Geschlechtertrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln erklärten die Richter für unzulässig - in öffentlichen Bussen müssen Schilder darauf hinweisen. Fakt ist aber auch, dass in den 56 "Mehadrin"-Buslinien zwischen ultraorthodoxen Siedlungen Geschlechtertrennung herrscht.

Das Oberste Gericht wollte auch nicht dulden, dass ashkenasische Ultraorthodoxe in einer religiösen Schule in Immanuel (Westbank) eine Mauer zwischen ihren und sephardischen Schulkindern zogen - aber die ashkenasischen Väter gingen lieber ein paar Tage ins Gefängnis, als ihre Töchter mit anderen Mädchen lernen zu lassen.

Die Ultraorthodoxen seien im Moment "Lieblingsthema der israelischen Medien, aber es ist ganz falsch, sie alle in einen Topf zu werfen", sagt Irene Pollak-Rein, Leiterin der deutschsprachigen Abteilung der Jerusalem Foundation. Die temperamentvolle 61-Jährige hat Verständnis dafür, dass sich die Haredim gegen den Generalverdacht der Intoleranz zur Wehr setzen. "Die Mehrheit der Haredim distanziert sich von einer kleinen extremistischen Minderheit", so Pollak-Rein. "Sie genieren sich für die Aktion mit den Nazi-Symbolen genauso wie andere Israelis."

Eine Ursache für die Zuspitzung der Konflikte sieht sie in der Demografie: "Die Nichtreligiösen fühlen sich zum Teil bedroht, weil sie weniger Kinder als die Religiösen bekommen."

Die Ultraorthodoxen werden immer mehr. Heute stellen sie zehn Prozent der 7,7 Millionen Israelis, aber zusammen mit den nationalreligiösen und den frommen Traditionalisten bilden sie schon jetzt die Mehrheit. Bleibt ihre Geburtenrate so hoch, wird der Anteil allein der Haredim in den nächsten 50 Jahren auf über 41 Prozent steigen - vier Prozent mehr als die der nicht haredischen Bevölkerung, heißt es in Hochrechnungen des Zentralen Statistikbüros. In Jerusalem sind bereits heute 29 Prozent der Einwohner Haredim.

Dieser Trend könnte schwerwiegende Folgen haben: für das Staatsverständnis, für die bisher erreichte Gleichstellung, für Toleranz im öffentlichen Raum, vor allem für eine Einigung mit den Palästinensern - die Ultraorthodoxen und radikale Siedlergruppen lehnen Gebietsrückgaben strikt ab.

Zweiter Punkt: Wegen der schweren Wirtschaftskrise hat Israel immer weniger Geld zu verteilen, sagt der Nahost-Experte Michael Lüders. "Die Verteilungskämpfe werden härter." So hat Israels Oberster Gerichtshof gerade die staatlichen Zuschüsse für jungverheiratete Ultraorthodoxe für unzulässig erklärt - für säkulare Paare wurden sie schon vor zehn Jahren gestrichen.

Selbst im konservativ-religiösen Lager wachsen Befürchtungen. Armut und Unbildung seien "tödlich für die Haredim", sagt der Jurist Chaim Amsalem, vormals Abgeordneter der Schas-Partei. Der Ökonomieprofessor Dan Ben-David, Experte für Israels wirtschaftliche Entwicklung an der Universität von Tel Aviv, sieht dunkelgrau: Das Land, das einmal für seinen Erfindungsreichtum, für Start-ups und Nobelpreise bekannt war, hinke ökonomisch immer weiter hinter anderen entwickelten Volkswirtschaften her, verliere seine Hochqualifizierten, werde von Wohlfahrts- und Sicherheitskosten aufgefressen. Er fordert unter anderem, in religiösen Schulen endlich zeitgemäße Lehrpläne einzuführen.

"In Israel geht nie etwas mit Konfrontation, es muss zu einem Dialog kommen", sagt Irene Pollak-Rein. Die Jerusalem Foundation, 1967 vom damaligen Bürgermeister Teddy Kollek gegründet, unterstützt gemeinnützige Projekte. Unter anderem fördert sie ein College, an dem Mädchen und Jungen der Haredim eine bessere Ausbildung bekommen. Und sie baute zusammen mit der Hebräischen Universität ein Wissenschaftsmuseum, das auch Schulen der Haredim anspricht.