Der Nahost-Experte Michael Lüders über die Folgen der Wirtschaftskrise für die Ultraorthodoxen

Hamburger Abendblatt:

Zwischenfälle mit Ultraorthodoxen gibt es in Israel seit Jahren. Aber erst jetzt ist in den israelischen Medien von einem Grundkonflikt die Rede. Warum?

Michael Lüders:

Grundlegend ist das Verhältnis zwischen Staat und Religion in Israel nie geklärt worden. Versteht sich Israel als eine säkulare Republik oder als ein Land, in dem auch die Theologie großen Einfluss haben soll? Schon Ben Gurion hat bei der Staatsgründung erkannt, dass in den religiösen Fragen sehr viel Sprengsatz liegt. Israel ist ein jüdischer Staat, der die Unterstützung der Rabbiner braucht, aber einen religiösen Staat wollte man damals nicht. Also hat man diese Grundsatzfrage einfach ausgeklammert. Das ist einer der Gründe, warum es bisher in Israel keine Verfassung gibt.

Die Konflikte in Bussen oder an Schulen scheinen sich zu häufen. Was könnte der Grund sein?

Lüders:

Israel erlebt eine massive Wirtschaftskrise, die Verteilungskämpfe werden härter. Die Ultraorthodoxen fühlen sich unter Druck, denn sie wollen an ihren Privilegien festhalten. Die bestehen unter anderem darin, dass sie keinen Militärdienst leisten und dass die Mehrzahl von ihnen als Transferempfänger von der Öffentlichkeit finanziert wird.

Nur 30 Prozent der ultraorthodoxen Männer leisten Militärdienst, nur 40 Prozent gehen einer bezahlten Arbeit nach. Warum ist das so?

Lüders:

Sie sehen sich als Hüter der Thora, als geistliche Existenzen. Und sie wollen sich vom Studium der religiösen Schriften nicht ablenken lassen durch eine profane Arbeit. Aber auch in Israel ist nicht unbegrenzt Geld zu verteilen. Die sozialen Probleme werden größer, 2010 hat es ja schon massive Demonstrationen gegeben.

Die ultrakonservative, orthodoxe Schas-Partei ist Mitglied der Regierungskoalition, vier ultraorthodoxe Minister sind in der Regierung. Gibt es zwischen Schas und den Ultraorthodoxen überhaupt eine Abgrenzung?

Lüders:

Ich glaube, dass die Grenzen fließend sind. Aber man kann sie nicht alle über einen Kamm scheren. Ultraorthodoxe wollen vergeistigt leben und interessieren sich vor allem für das Thora-Studium, bei vielen werden Fragen der Kleidung und der Stellung der Frau zu Grundthemen ihrer Lebensauffassung. Bei anderen orthodoxen Strömungen, etwa in den Reihen der Siedlerbewegung, ist es nicht so wichtig, wie Frauen sich in der Öffentlichkeit bewegen, solange die Siedlungspolitik unterstützt wird. Staatstragenden Orthodoxen wie der Schas-Partei geht es darum, möglichst viel staatliche Unterstützung für ihre Klientel zu gewährleisten und ihren politischen Einfluss zu verstärken. Solange das gelingt, sind sie kompromissbereit. Und es gibt kleine Gruppen von Ultraorthodoxen, von denen man befürchtet, dass sie ihre Vorstellungen auch militant in die Öffentlichkeit tragen. Schon heute ziehen viele Israelis von Jerusalem fort und zum Beispiel nach Tel Aviv, weil ihnen die Massierung der Religiösen gegen den Strich geht.