Ex-Premier schildert seine “Risikokalkulation“ vor dem Irak-Krieg. Er verteidigt den Einmarsch am Golf nach den Terroranschlägen von 2001.

London. Die Luft war zerschnitten von schrill skandierten Protesten. "Kriegsverbrecher Blair" schallte es schon am Morgen vor dem Konferenzzentrum Elizabeth Hall im Herzen von Westminster, dem Londoner Regierungsviertel. Reichlich gestreute Plakate untermauerten die Botschaft. "BLIAR" las sich am größten - ein Wortspiel mit dem Nachnamen des früheren Premierministers, bei dem man nur das A und das I zu vertauschen braucht, und schon liest es sich wie "Lügner" (liar), mit dem B davor.

Die "Koalition gegen den Krieg" hatte ganze Arbeit geleistet, was ihre Aussagen anging, aber nur ein eher bescheidenes Aufgebot von etwa 200 Demonstranten war erschienen, ihren Anti-Blair-, ihren Anti-Irakkriegs-Protest zu dokumentieren. Vor sieben Jahren, am Vorabend der Intervention am Golf, waren es eine Million, die im Februar durch das Herz Londons zogen, um ihre "Ohne mich"-Haltung gegenüber dem bevorstehenden Krieg zu bekunden.

Unvermindert schäumt dagegen bis heute die Diskussion um Blair und die Motive, die ihn zu diesem Krieg bewogen. Hat er sein Volk belogen über seine Absicht, der amerikanischen Linie eines "regime change" in Bagdad zu folgen, koste es, was es wolle? Hat er wissentlich die Bedrohung durch irakische Massenvernichtungswaffen übertrieben, um "seinen Krieg" zu bekommen? Diese und verwandte Fragen untersucht seit vergangenem November in unendlichen Anhörungen der Irak-Untersuchungsausschuss unter Leitung von Sir John Chilcot. Tony Blair ist der 69. geladene Zeuge, alles Bisherige war lediglich ein Vorspiel, wenn auch ein teilweise hochbedeutsames. Zum Auftritt gestern, zum Auftritt des "Hauptangeklagten", wie Blairs Gegner es sehen, kamen auch Angehörige der im Irak gefallenen 179 Soldaten; 30 Plätze hatte man ihnen im kleinen Verhandlungsraum per Lotterie zugewiesen.

Doch wer einen Politiker erwartet hatte, der im Nachhinein grundlegende Fehler seines Tuns zuzugeben bereit sein oder sich reumütig vor den Menschen und der Geschichte verbeugen würde, sah sich enttäuscht. Blair stellte drei Themen ins Zentrum seiner Aussagen: Die Terroranschläge in New York und Washington vom 11. September 2001, das Risiko als Faktor der politischen Entscheidungslage, und die Entscheidung selber, besser: das Entscheidenmüssen des Erstverantwortlichen der Politik. Alles dies vor dem Hintergrund der Frage, wie mit dem irakischen Diktator Saddam Hussein umzugehen sei.



"9/11", so führte der Ex-Premier aus, änderte alles, "vor allem unsere Einschätzung von der Welt, in der wir leben". Das "Risikokalkül" veränderte sich: Angesichts von zu Massenmord bereiten Extremisten erschien jetzt auch ein Alleinherrscher wie Saddam, der chemische Waffen gegen den Iran und sein eigenes Volk eingesetzt hatte, in anderem Licht. Anders ausgedrückt: "Die Toleranzschwelle gegenüber Bedrohungen" senkte sich. Und damit rückte für Blair auch die Notwendigkeit näher, möglicherweise anders mit Saddam umzugehen als auf die bisherige Eindämmungspolitik und immer weitere Uno-Resolutionen zu setzen. Für Blair gab es keinen Zweifel, unter dem Zeichen des Paradigmenwechsels "9/11" Schulter an Schulter mit den USA zu stehen und das Land "nicht allein zu lassen", wenn die Not zu handeln unausweichlich würde. "Wir haben ein Bündnis mit Amerika, keinen Vertrag", definierte er seine Philosophie - die Grundlage seiner Beziehungen zu Washington: "Diese Allianz ist ein wesentlicher Teil unserer Sicherheit." Sehr früh wollte er in Gesprächen mit europäischen Politikern herausgefunden haben, dass diese die Frage einer möglichen Koalition, wie sie 1990/91 bestanden hatte, diesmal anders beurteilten, bei allen abgegebenen Solidaritätsbekundungen mit den Amerikanern nach dem 11. September 2001.

Immer stärker rückte damit für Blair der Augenblick der Entscheidung heran. "Wenn es richtig war, gegen Saddam vorzugehen, kam es darauf an, dass Großbritannien zur Stelle war." Der Wille zur Entscheidung, das wusste die Welt freilich seit Langem, war so etwas wie die Erkennungsmelodie Blairs und seiner Jahre im Amt. Im Mai 2007, als er es aufgab, hatte er in der Zeitschrift "Economist" fünf Grundsätze seines politischen Handelns aufgelistet, darunter als ersten: "Sei ein Akteur, kein Zuschauer." Natürlich haben sich im Nachhinein die Massenvernichtungswaffen Iraks in nichts aufgelöst, konzedierte Blair. Aber Saddam besaß den Willen, seine Befähigung dazu nicht aufzugeben, und so "stand ich vor dem Risiko, nichts zu tun und den Dingen ihren Lauf zu lassen oder das andere Risiko einzugehen und zu handeln."

Auch zum "regime change" bekannte sich Blair. Aber es stimme einfach nicht, dass bei dem Treffen mit US-Präsident George W. Bush auf dessen Ranch in Crawford, Texas, bereits eine Entscheidung zum militärischen Vorgehen gefallen sei. Vielmehr galt die Anwendung von Gewalt immer nur als äußerste Konsequenz, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft sein würden. Mit Bitterkeit rekapitulierte Blair, dass die letzte Möglichkeit, nach Resolution 1441 eine zweite zu erreichen, so etwas wie eine ausdrückliche Ermächtigung zum militärischen Eingreifen - was Saddam vielleicht zum Einlenken gebracht hätte - durch das Veto Frankreichs und Russlands vereitelt wurde.

Dies war keine Verteidigungsrede, es war die Darstellung, vor welche Abwägungen und Entscheidungen sich der politisch Verantwortliche gestellt sehen kann.